Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. erreichte. Ueber der Stirn verschnitt man es Anfangs mehr ingrader Linie, dann aber strich man es aus Schläfen und Stirn zurück, daß das ganze Gesicht frei und offen war, oder scheitelte es von der Mitte nach beiden Seiten, oder kräuselte die vordre Partie mitten über der Stirn. Durchweg mußte das Haar gelockt sein, denn schlicht gelassen, hätte es bei dieser Länge wieder seines Zweckes verfehlt. Wo die Natur solchen Schmuck versagt hatte, half die Kunst nach und stellte durch Salben und Brennen große, wellige, schwunghafte Locken her. Den Stutzern wurde das Haar des Nachts, wie Nithart sagt, "wohl geschnüret," also wohl in eine Art Papillotten eingewickelt. Kleines, wolliges Gekräusel entsprach nicht der Geschmacksrichtung. Diese Art das Haar zu tragen stimmt völlig zu dem freien, 1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. erreichte. Ueber der Stirn verſchnitt man es Anfangs mehr ingrader Linie, dann aber ſtrich man es aus Schläfen und Stirn zurück, daß das ganze Geſicht frei und offen war, oder ſcheitelte es von der Mitte nach beiden Seiten, oder kräuſelte die vordre Partie mitten über der Stirn. Durchweg mußte das Haar gelockt ſein, denn ſchlicht gelaſſen, hätte es bei dieſer Länge wieder ſeines Zweckes verfehlt. Wo die Natur ſolchen Schmuck verſagt hatte, half die Kunſt nach und ſtellte durch Salben und Brennen große, wellige, ſchwunghafte Locken her. Den Stutzern wurde das Haar des Nachts, wie Nithart ſagt, „wohl geſchnüret,“ alſo wohl in eine Art Papillotten eingewickelt. Kleines, wolliges Gekräuſel entſprach nicht der Geſchmacksrichtung. Dieſe Art das Haar zu tragen ſtimmt völlig zu dem freien, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0159" n="141"/><fw place="top" type="header">1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.</fw><lb/> erreichte. Ueber der Stirn verſchnitt man es Anfangs mehr in<lb/> grader Linie, dann aber ſtrich man es aus Schläfen und Stirn<lb/> zurück, daß das ganze Geſicht frei und offen war, oder ſcheitelte<lb/> es von der Mitte nach beiden Seiten, oder kräuſelte die vordre<lb/> Partie mitten über der Stirn. Durchweg mußte das Haar gelockt<lb/> ſein, denn ſchlicht gelaſſen, hätte es bei dieſer Länge wieder ſeines<lb/> Zweckes verfehlt. Wo die Natur ſolchen Schmuck verſagt hatte,<lb/> half die Kunſt nach und ſtellte durch Salben und Brennen große,<lb/> wellige, ſchwunghafte Locken her. Den Stutzern wurde das Haar<lb/> des Nachts, wie Nithart ſagt, „wohl geſchnüret,“ alſo wohl in<lb/> eine Art Papillotten eingewickelt. Kleines, wolliges Gekräuſel<lb/> entſprach nicht der Geſchmacksrichtung.</p><lb/> <p>Dieſe Art das Haar zu tragen ſtimmt völlig zu dem freien,<lb/> ungehinderten Lockenfluß der Frauenwelt; es iſt derſelbe Schön-<lb/> heitsſinn und derſelbe Stil der Behandlung, nur dem männlichen<lb/> Charakter gemäß beſchränkt, denn die Frauen ſind es, welche<lb/> „langes Haar und kurzen Sinn“ haben, wie ein damaliges Sprich-<lb/> wort ſagt. Aber nur der freie, der feine und edle Mann trägt ſich<lb/> ſo; der gemeine, der Bauer wie der Wende und Slave haben das<lb/> Haar über den Ohren kurz verſchnitten. Nur Helmbrecht, der<lb/> Bauerſohn, der adlige Art und Sitte affectirt, ſpricht von ſeinem<lb/> langen, gelben Haar und ſeinen ſchönen Locken, und Nithart, der<lb/> Dichter, macht ſeinen Feinden, den üppigen Bauern Niederöſter-<lb/> reichs, denſelben Vorwurf. Auch der Narr muß ſein Haar ver-<lb/> ſchneiden, und wer als Thor gelten will, ſchwärzt ſich wie ein<lb/> Mohr und kürzt das Haar. Andre Veranlaſſung dazu boten<lb/> Trauerfälle den Männern wie den Frauen. Auch der Minnedienſt<lb/> konnte dies Opfer verlangen. Beim Eintritt in denſelben, wie es<lb/> beim Eintritt in den Ritterſtand geſchah, ſchnitt man das Haar<lb/> ab zu Ehren der geliebten oder gefeierten Dame. So legten um<lb/> die ſchöne Gräfin Guida von Rodes hundert Ritter ihre Locken-<lb/> fülle ab und machten ſich dadurch gewiſſermaßen zu ihren Sclaven,<lb/> denn es erinnert an die alte Sitte, wonach dem freien Mann, der<lb/> in Knechtſchaft kam, das Haupt geſchoren wurde. Endlich wurden<lb/> auch beim Kampfgericht den Kämpfern die Haare kurz geſchnitten.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0159]
1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
erreichte. Ueber der Stirn verſchnitt man es Anfangs mehr in
grader Linie, dann aber ſtrich man es aus Schläfen und Stirn
zurück, daß das ganze Geſicht frei und offen war, oder ſcheitelte
es von der Mitte nach beiden Seiten, oder kräuſelte die vordre
Partie mitten über der Stirn. Durchweg mußte das Haar gelockt
ſein, denn ſchlicht gelaſſen, hätte es bei dieſer Länge wieder ſeines
Zweckes verfehlt. Wo die Natur ſolchen Schmuck verſagt hatte,
half die Kunſt nach und ſtellte durch Salben und Brennen große,
wellige, ſchwunghafte Locken her. Den Stutzern wurde das Haar
des Nachts, wie Nithart ſagt, „wohl geſchnüret,“ alſo wohl in
eine Art Papillotten eingewickelt. Kleines, wolliges Gekräuſel
entſprach nicht der Geſchmacksrichtung.
Dieſe Art das Haar zu tragen ſtimmt völlig zu dem freien,
ungehinderten Lockenfluß der Frauenwelt; es iſt derſelbe Schön-
heitsſinn und derſelbe Stil der Behandlung, nur dem männlichen
Charakter gemäß beſchränkt, denn die Frauen ſind es, welche
„langes Haar und kurzen Sinn“ haben, wie ein damaliges Sprich-
wort ſagt. Aber nur der freie, der feine und edle Mann trägt ſich
ſo; der gemeine, der Bauer wie der Wende und Slave haben das
Haar über den Ohren kurz verſchnitten. Nur Helmbrecht, der
Bauerſohn, der adlige Art und Sitte affectirt, ſpricht von ſeinem
langen, gelben Haar und ſeinen ſchönen Locken, und Nithart, der
Dichter, macht ſeinen Feinden, den üppigen Bauern Niederöſter-
reichs, denſelben Vorwurf. Auch der Narr muß ſein Haar ver-
ſchneiden, und wer als Thor gelten will, ſchwärzt ſich wie ein
Mohr und kürzt das Haar. Andre Veranlaſſung dazu boten
Trauerfälle den Männern wie den Frauen. Auch der Minnedienſt
konnte dies Opfer verlangen. Beim Eintritt in denſelben, wie es
beim Eintritt in den Ritterſtand geſchah, ſchnitt man das Haar
ab zu Ehren der geliebten oder gefeierten Dame. So legten um
die ſchöne Gräfin Guida von Rodes hundert Ritter ihre Locken-
fülle ab und machten ſich dadurch gewiſſermaßen zu ihren Sclaven,
denn es erinnert an die alte Sitte, wonach dem freien Mann, der
in Knechtſchaft kam, das Haupt geſchoren wurde. Endlich wurden
auch beim Kampfgericht den Kämpfern die Haare kurz geſchnitten.
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