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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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II. Das Mittelalter.
offenbaren sie für die Schönheit und die Leuchtkraft der Farben,
welchen sie nur mit ihrer neu ins Leben gerufenen Oelmalerei be-
friedigen konnten. Statt der herkömmlichen typischen Bildung
der Köpfe führten sie das Individuelle, das Charakteristische in
die Darstellung des Menschen und auch der Heiligen ein, und
schufen damit erst als einen neuen und selbstständigen Zweig der
Malerei das Portrait. Sie zuerst stellten auch Gegenstände der
profanen Geschichte und des Lebens in größerem Maßstabe dar.
Diese Richtung war so die allgemeine der Zeit, daß selbst Fiesole,
der Zeitgenosse der van Eycks, in welchem die ganze Uebersinn-
lichkeit des Mittelalters mit der vollen, kindlichnaiven Hingebung
und der unergründlichen Glaubensinnigkeit noch einmal im höch-
sten Maße aufflammt, sich ihr nicht entziehen kann. Fiesole gilt
als derjenige, der zuerst das Individuelle, Portraitartige in die
italienische Kunst eingeführt hat. Doch fehlte auch den van Eycks
und ihren Nachfolgern in den Niederlanden und in Deutschland
und überhaupt dem funfzehnten Jahrhundert noch keineswegs die
Fähigkeit, diese Seelenzustände mit aller Energie und aus der
Unmittelbarkeit des künstlerischen Schaffens darzustellen. In
merkwürdiger Weise finden sich diese beiden Richtungen mit ein-
ander vereinigt.

Wir finden denselben Gegensatz in der sittlichen Welt. Der
wachsende Reichthum der Städte, das bewegtere Leben der Bür-
ger, ihre Unabhängigkeit und oft ihr Uebermuth hatten dem Rea-
lismus oder dem Materialismus Thür und Thor geöffnet; mit
ihm aber war die alte sittliche Ordnung über den Haufen gesto-
ßen, Ehrbarkeit, Scham und Zucht verschwanden aus dem Leben,
und eine Sittenlosigkeit trat ein in so abschreckender, schamloser
Gestalt, daß man sich entsetzt von den Schilderungen abwendet.
Nach der einen Seite betrachtet, haben wir es durchaus mit einer
Zeit der Entartung zu thun. Die Dichter, die Chronisten, die
Prediger sind gleich voll der Klagen über das allgemeine Ver-
derbniß, und die Gesetze, die ihm hemmend entgegen treten soll-
ten, sind mit ihren schaudererregenden Strafen ein gleicher Be-
weis, daß das menschliche Gefühl erstickt ist. Das ist die eine

II. Das Mittelalter.
offenbaren ſie für die Schönheit und die Leuchtkraft der Farben,
welchen ſie nur mit ihrer neu ins Leben gerufenen Oelmalerei be-
friedigen konnten. Statt der herkömmlichen typiſchen Bildung
der Köpfe führten ſie das Individuelle, das Charakteriſtiſche in
die Darſtellung des Menſchen und auch der Heiligen ein, und
ſchufen damit erſt als einen neuen und ſelbſtſtändigen Zweig der
Malerei das Portrait. Sie zuerſt ſtellten auch Gegenſtände der
profanen Geſchichte und des Lebens in größerem Maßſtabe dar.
Dieſe Richtung war ſo die allgemeine der Zeit, daß ſelbſt Fieſole,
der Zeitgenoſſe der van Eycks, in welchem die ganze Ueberſinn-
lichkeit des Mittelalters mit der vollen, kindlichnaiven Hingebung
und der unergründlichen Glaubensinnigkeit noch einmal im höch-
ſten Maße aufflammt, ſich ihr nicht entziehen kann. Fieſole gilt
als derjenige, der zuerſt das Individuelle, Portraitartige in die
italieniſche Kunſt eingeführt hat. Doch fehlte auch den van Eycks
und ihren Nachfolgern in den Niederlanden und in Deutſchland
und überhaupt dem funfzehnten Jahrhundert noch keineswegs die
Fähigkeit, dieſe Seelenzuſtände mit aller Energie und aus der
Unmittelbarkeit des künſtleriſchen Schaffens darzuſtellen. In
merkwürdiger Weiſe finden ſich dieſe beiden Richtungen mit ein-
ander vereinigt.

Wir finden denſelben Gegenſatz in der ſittlichen Welt. Der
wachſende Reichthum der Städte, das bewegtere Leben der Bür-
ger, ihre Unabhängigkeit und oft ihr Uebermuth hatten dem Rea-
lismus oder dem Materialismus Thür und Thor geöffnet; mit
ihm aber war die alte ſittliche Ordnung über den Haufen geſto-
ßen, Ehrbarkeit, Scham und Zucht verſchwanden aus dem Leben,
und eine Sittenloſigkeit trat ein in ſo abſchreckender, ſchamloſer
Geſtalt, daß man ſich entſetzt von den Schilderungen abwendet.
Nach der einen Seite betrachtet, haben wir es durchaus mit einer
Zeit der Entartung zu thun. Die Dichter, die Chroniſten, die
Prediger ſind gleich voll der Klagen über das allgemeine Ver-
derbniß, und die Geſetze, die ihm hemmend entgegen treten ſoll-
ten, ſind mit ihren ſchaudererregenden Strafen ein gleicher Be-
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[174/0192] II. Das Mittelalter. offenbaren ſie für die Schönheit und die Leuchtkraft der Farben, welchen ſie nur mit ihrer neu ins Leben gerufenen Oelmalerei be- friedigen konnten. Statt der herkömmlichen typiſchen Bildung der Köpfe führten ſie das Individuelle, das Charakteriſtiſche in die Darſtellung des Menſchen und auch der Heiligen ein, und ſchufen damit erſt als einen neuen und ſelbſtſtändigen Zweig der Malerei das Portrait. Sie zuerſt ſtellten auch Gegenſtände der profanen Geſchichte und des Lebens in größerem Maßſtabe dar. Dieſe Richtung war ſo die allgemeine der Zeit, daß ſelbſt Fieſole, der Zeitgenoſſe der van Eycks, in welchem die ganze Ueberſinn- lichkeit des Mittelalters mit der vollen, kindlichnaiven Hingebung und der unergründlichen Glaubensinnigkeit noch einmal im höch- ſten Maße aufflammt, ſich ihr nicht entziehen kann. Fieſole gilt als derjenige, der zuerſt das Individuelle, Portraitartige in die italieniſche Kunſt eingeführt hat. Doch fehlte auch den van Eycks und ihren Nachfolgern in den Niederlanden und in Deutſchland und überhaupt dem funfzehnten Jahrhundert noch keineswegs die Fähigkeit, dieſe Seelenzuſtände mit aller Energie und aus der Unmittelbarkeit des künſtleriſchen Schaffens darzuſtellen. In merkwürdiger Weiſe finden ſich dieſe beiden Richtungen mit ein- ander vereinigt. Wir finden denſelben Gegenſatz in der ſittlichen Welt. Der wachſende Reichthum der Städte, das bewegtere Leben der Bür- ger, ihre Unabhängigkeit und oft ihr Uebermuth hatten dem Rea- lismus oder dem Materialismus Thür und Thor geöffnet; mit ihm aber war die alte ſittliche Ordnung über den Haufen geſto- ßen, Ehrbarkeit, Scham und Zucht verſchwanden aus dem Leben, und eine Sittenloſigkeit trat ein in ſo abſchreckender, ſchamloſer Geſtalt, daß man ſich entſetzt von den Schilderungen abwendet. Nach der einen Seite betrachtet, haben wir es durchaus mit einer Zeit der Entartung zu thun. Die Dichter, die Chroniſten, die Prediger ſind gleich voll der Klagen über das allgemeine Ver- derbniß, und die Geſetze, die ihm hemmend entgegen treten ſoll- ten, ſind mit ihren ſchaudererregenden Strafen ein gleicher Be- weis, daß das menſchliche Gefühl erſtickt iſt. Das iſt die eine

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/192>, abgerufen am 21.11.2024.