Spannen nahe über die Kniee. Darnach machten sie die Röcke also kurz, eine Spanne unter den Gürtel." Alle damaligen Klei- derordnungen, die Speierer von 1356 an der Spitze, schreiten schon gegen diese Mode ein, welche sofort vollkommen städtisch und bürgerlich geworden war.
Fast noch größere Aufmerksamkeit hat die zunehmende Enge erregt. Schon früher, wie wir am Schluß des vorigen Capitels gesehen haben, hatte man sie durch Aufschlitzen, Ausschneiden, Wiederzuschnüren und Besatz von Knöpfen zu erzielen gesucht. Bisher hatte sich dies aber mehr auf die Arme und die Brust der Damen beschränkt, wo das Oberkleid mit einer Reihe von Knö- pfen bis auf den Gürtel herab besetzt gewesen war. Jetzt ging es in vollster Weise auf die Männer über. Man kann sagen, diesem zunehmenden Geschmack an der Enge verdanken wir die Ent- stehung des modernen Rockes. Die Hauptunbequemlichkeit des alten und mittelalterlichen beruhte darauf, daß er über den Kopf angezogen werden mußte, eine Eigenschaft, die der Tunica wie dem altgermanischen Rock in gleicher Weise anklebte. Diese Art des Anzugs erforderte immer noch eine gewisse Weite für den Durchlaß der Schultern und Arme. Indem man nun aufzu- schneiden begann, an den Armen sowohl, wie vorn auf der Brust von oben herab und wieder von unten herauf, und die Oeffnung in größerer Enge wieder zuknöpfte, kam man auf den Gedanken, den vordern Einschnitt ganz durchgehen zu lassen und den Rock von oben bis unten zu spalten. Damit erhielt er, obwohl es eigentlich nur auf größere Enge abgesehen war, eine bequemere Art des Anzugs und zugleich eine so durchgreifende Veränderung, welche die Grundlage seiner folgenden Entwicklung bis auf den gegenwärtigen Zustand wurde; und damit auch ging die letzte Erinnerung seines classischen Ursprungs verloren. Nur in der Blouse erhielt sich die alte Form erkennbar bis auf unsere Zeiten.
Die Enge des Rockes beschränkte sich nicht auf Arme, Brust und Taille; selbst um die Hüften und die Oberschenkel hatte er die höchste Spannung. Nirgends zeigte sich nur die kleinste Falte. Natürlich litt darunter die freie Bewegung des Körpers. "Da
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2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
Spannen nahe über die Kniee. Darnach machten ſie die Röcke alſo kurz, eine Spanne unter den Gürtel.“ Alle damaligen Klei- derordnungen, die Speierer von 1356 an der Spitze, ſchreiten ſchon gegen dieſe Mode ein, welche ſofort vollkommen ſtädtiſch und bürgerlich geworden war.
Faſt noch größere Aufmerkſamkeit hat die zunehmende Enge erregt. Schon früher, wie wir am Schluß des vorigen Capitels geſehen haben, hatte man ſie durch Aufſchlitzen, Ausſchneiden, Wiederzuſchnüren und Beſatz von Knöpfen zu erzielen geſucht. Bisher hatte ſich dies aber mehr auf die Arme und die Bruſt der Damen beſchränkt, wo das Oberkleid mit einer Reihe von Knö- pfen bis auf den Gürtel herab beſetzt geweſen war. Jetzt ging es in vollſter Weiſe auf die Männer über. Man kann ſagen, dieſem zunehmenden Geſchmack an der Enge verdanken wir die Ent- ſtehung des modernen Rockes. Die Hauptunbequemlichkeit des alten und mittelalterlichen beruhte darauf, daß er über den Kopf angezogen werden mußte, eine Eigenſchaft, die der Tunica wie dem altgermaniſchen Rock in gleicher Weiſe anklebte. Dieſe Art des Anzugs erforderte immer noch eine gewiſſe Weite für den Durchlaß der Schultern und Arme. Indem man nun aufzu- ſchneiden begann, an den Armen ſowohl, wie vorn auf der Bruſt von oben herab und wieder von unten herauf, und die Oeffnung in größerer Enge wieder zuknöpfte, kam man auf den Gedanken, den vordern Einſchnitt ganz durchgehen zu laſſen und den Rock von oben bis unten zu ſpalten. Damit erhielt er, obwohl es eigentlich nur auf größere Enge abgeſehen war, eine bequemere Art des Anzugs und zugleich eine ſo durchgreifende Veränderung, welche die Grundlage ſeiner folgenden Entwicklung bis auf den gegenwärtigen Zuſtand wurde; und damit auch ging die letzte Erinnerung ſeines claſſiſchen Urſprungs verloren. Nur in der Blouſe erhielt ſich die alte Form erkennbar bis auf unſere Zeiten.
Die Enge des Rockes beſchränkte ſich nicht auf Arme, Bruſt und Taille; ſelbſt um die Hüften und die Oberſchenkel hatte er die höchſte Spannung. Nirgends zeigte ſich nur die kleinſte Falte. Natürlich litt darunter die freie Bewegung des Körpers. „Da
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2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
Spannen nahe über die Kniee. Darnach machten ſie die Röcke
alſo kurz, eine Spanne unter den Gürtel.“ Alle damaligen Klei-
derordnungen, die Speierer von 1356 an der Spitze, ſchreiten
ſchon gegen dieſe Mode ein, welche ſofort vollkommen ſtädtiſch
und bürgerlich geworden war.
Faſt noch größere Aufmerkſamkeit hat die zunehmende Enge
erregt. Schon früher, wie wir am Schluß des vorigen Capitels
geſehen haben, hatte man ſie durch Aufſchlitzen, Ausſchneiden,
Wiederzuſchnüren und Beſatz von Knöpfen zu erzielen geſucht.
Bisher hatte ſich dies aber mehr auf die Arme und die Bruſt der
Damen beſchränkt, wo das Oberkleid mit einer Reihe von Knö-
pfen bis auf den Gürtel herab beſetzt geweſen war. Jetzt ging es
in vollſter Weiſe auf die Männer über. Man kann ſagen, dieſem
zunehmenden Geſchmack an der Enge verdanken wir die Ent-
ſtehung des modernen Rockes. Die Hauptunbequemlichkeit des
alten und mittelalterlichen beruhte darauf, daß er über den Kopf
angezogen werden mußte, eine Eigenſchaft, die der Tunica wie
dem altgermaniſchen Rock in gleicher Weiſe anklebte. Dieſe Art
des Anzugs erforderte immer noch eine gewiſſe Weite für den
Durchlaß der Schultern und Arme. Indem man nun aufzu-
ſchneiden begann, an den Armen ſowohl, wie vorn auf der Bruſt
von oben herab und wieder von unten herauf, und die Oeffnung
in größerer Enge wieder zuknöpfte, kam man auf den Gedanken,
den vordern Einſchnitt ganz durchgehen zu laſſen und den Rock
von oben bis unten zu ſpalten. Damit erhielt er, obwohl es
eigentlich nur auf größere Enge abgeſehen war, eine bequemere
Art des Anzugs und zugleich eine ſo durchgreifende Veränderung,
welche die Grundlage ſeiner folgenden Entwicklung bis auf den
gegenwärtigen Zuſtand wurde; und damit auch ging die letzte
Erinnerung ſeines claſſiſchen Urſprungs verloren. Nur in der
Blouſe erhielt ſich die alte Form erkennbar bis auf unſere Zeiten.
Die Enge des Rockes beſchränkte ſich nicht auf Arme, Bruſt
und Taille; ſelbſt um die Hüften und die Oberſchenkel hatte er
die höchſte Spannung. Nirgends zeigte ſich nur die kleinſte Falte.
Natürlich litt darunter die freie Bewegung des Körpers. „Da
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/213>, abgerufen am 18.06.2024.
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