andern Moden war auch diese ein Erzeugniß des vierzehnten Jahr- hunderts. Schon in der Mitte desselben trugen die Frauen den Ausschnitt so tief, daß man die halben Brüste sah. Die Kleider- gesetze, eines nach dem andern, suchen umsonst das wachsende Uebel zu beschränken und vergebens schreiben sie aufs genauste die Größe des Hauptloches vor und auf Fingerbreite, wie weit das Kleid auf den Achseln aufliegen soll. Es war ein Kampf wider Wind und Strom.
Mit dieser Neigung zu decolletiren, ist die Umwandlung, welche gleichzeitig die Haartracht erlitt, in Verbindung zu setzen. Um die blendende Weiße des Nackens und Rückens zur vollen Geltung zu bringen, mußten die langen, wallenden Locken, wie sie noch im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, selbst bei verheiratheten Damen, über die Schultern und den Rücken herabflossen, ihrer Freiheit beraubt werden. Der einen Schönheit wurde die andere zum Opfer gebracht. Es wurde, wie wir schon am Schluß des vorigen Capitels angedeutet haben, allgemeine Sitte, das Haar aufzubinden; nur Jungfrauen vornehmsten Standes, unverhei- rathete Prinzessinnen und zuweilen auch verheirathete Fürstinnen machen eine Ausnahme zu Gunsten der alten Mode des langen Lockenflusses. Gewöhnlich ist das Haar über der Stirn gescheitelt und in zwei Zöpfe geflochten, welche zu beiden Seiten um die Ohren gelegt sind. Jungfrauen ließen auch wohl die Flechten herunterhängen; Frauen war das z. B. vom übersorgsamen Rath zu Speier ausdrücklich verboten worden. In der Art, wie die Flechten gelegt, wie sie auf dem Kopfe befestigt oder mit einigen kleinen Locken an der Wange verbunden, namentlich aber, wie sie mit Schmuck versehen wurden, blieb dem individuellen Geschmack der Frauen noch vieles überlassen. Zuweilen konnten auch ge- gründete Zweifel über die Aechtheit der Zöpfe entstehen, denn der Rath von Straßburg sieht sich gar genöthigt, das falsche Haar zu verbieten. Ein schöner, ächter Frauenzopf konnte aber hoch gefeiert werden, wie es jenem geschah, den sich einst eine schöne Frau für einen Herzog von Oesterreich abschnitt. Der Herzog stiftete ihm zu Ehren eine ritterliche Gesellschaft, genannt "vom Zopf."
II. Das Mittelalter.
andern Moden war auch dieſe ein Erzeugniß des vierzehnten Jahr- hunderts. Schon in der Mitte deſſelben trugen die Frauen den Ausſchnitt ſo tief, daß man die halben Brüſte ſah. Die Kleider- geſetze, eines nach dem andern, ſuchen umſonſt das wachſende Uebel zu beſchränken und vergebens ſchreiben ſie aufs genauſte die Größe des Hauptloches vor und auf Fingerbreite, wie weit das Kleid auf den Achſeln aufliegen ſoll. Es war ein Kampf wider Wind und Strom.
Mit dieſer Neigung zu decolletiren, iſt die Umwandlung, welche gleichzeitig die Haartracht erlitt, in Verbindung zu ſetzen. Um die blendende Weiße des Nackens und Rückens zur vollen Geltung zu bringen, mußten die langen, wallenden Locken, wie ſie noch im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, ſelbſt bei verheiratheten Damen, über die Schultern und den Rücken herabfloſſen, ihrer Freiheit beraubt werden. Der einen Schönheit wurde die andere zum Opfer gebracht. Es wurde, wie wir ſchon am Schluß des vorigen Capitels angedeutet haben, allgemeine Sitte, das Haar aufzubinden; nur Jungfrauen vornehmſten Standes, unverhei- rathete Prinzeſſinnen und zuweilen auch verheirathete Fürſtinnen machen eine Ausnahme zu Gunſten der alten Mode des langen Lockenfluſſes. Gewöhnlich iſt das Haar über der Stirn geſcheitelt und in zwei Zöpfe geflochten, welche zu beiden Seiten um die Ohren gelegt ſind. Jungfrauen ließen auch wohl die Flechten herunterhängen; Frauen war das z. B. vom überſorgſamen Rath zu Speier ausdrücklich verboten worden. In der Art, wie die Flechten gelegt, wie ſie auf dem Kopfe befeſtigt oder mit einigen kleinen Locken an der Wange verbunden, namentlich aber, wie ſie mit Schmuck verſehen wurden, blieb dem individuellen Geſchmack der Frauen noch vieles überlaſſen. Zuweilen konnten auch ge- gründete Zweifel über die Aechtheit der Zöpfe entſtehen, denn der Rath von Straßburg ſieht ſich gar genöthigt, das falſche Haar zu verbieten. Ein ſchöner, ächter Frauenzopf konnte aber hoch gefeiert werden, wie es jenem geſchah, den ſich einſt eine ſchöne Frau für einen Herzog von Oeſterreich abſchnitt. Der Herzog ſtiftete ihm zu Ehren eine ritterliche Geſellſchaft, genannt „vom Zopf.“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0232"n="214"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Das Mittelalter.</fw><lb/>
andern Moden war auch dieſe ein Erzeugniß des vierzehnten Jahr-<lb/>
hunderts. Schon in der Mitte deſſelben trugen die Frauen den<lb/>
Ausſchnitt ſo tief, daß man die halben Brüſte ſah. Die Kleider-<lb/>
geſetze, eines nach dem andern, ſuchen umſonſt das wachſende<lb/>
Uebel zu beſchränken und vergebens ſchreiben ſie aufs genauſte die<lb/>
Größe des Hauptloches vor und auf Fingerbreite, wie weit das<lb/>
Kleid auf den Achſeln aufliegen ſoll. Es war ein Kampf wider<lb/>
Wind und Strom.</p><lb/><p>Mit dieſer Neigung zu decolletiren, iſt die Umwandlung, welche<lb/>
gleichzeitig die <hirendition="#g">Haartracht</hi> erlitt, in Verbindung zu ſetzen. Um<lb/>
die blendende Weiße des Nackens und Rückens zur vollen Geltung<lb/>
zu bringen, mußten die langen, wallenden Locken, wie ſie noch<lb/>
im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, ſelbſt bei verheiratheten<lb/>
Damen, über die Schultern und den Rücken herabfloſſen, ihrer<lb/>
Freiheit beraubt werden. Der einen Schönheit wurde die andere<lb/>
zum Opfer gebracht. Es wurde, wie wir ſchon am Schluß des<lb/>
vorigen Capitels angedeutet haben, allgemeine Sitte, das Haar<lb/>
aufzubinden; nur Jungfrauen vornehmſten Standes, unverhei-<lb/>
rathete Prinzeſſinnen und zuweilen auch verheirathete Fürſtinnen<lb/>
machen eine Ausnahme zu Gunſten der alten Mode des langen<lb/>
Lockenfluſſes. Gewöhnlich iſt das Haar über der Stirn geſcheitelt<lb/>
und in zwei Zöpfe geflochten, welche zu beiden Seiten um die<lb/>
Ohren gelegt ſind. Jungfrauen ließen auch wohl die Flechten<lb/>
herunterhängen; Frauen war das z. B. vom überſorgſamen Rath<lb/>
zu Speier ausdrücklich verboten worden. In der Art, wie die<lb/>
Flechten gelegt, wie ſie auf dem Kopfe befeſtigt oder mit einigen<lb/>
kleinen Locken an der Wange verbunden, namentlich aber, wie ſie<lb/>
mit Schmuck verſehen wurden, blieb dem individuellen Geſchmack<lb/>
der Frauen noch vieles überlaſſen. Zuweilen konnten auch ge-<lb/>
gründete Zweifel über die Aechtheit der Zöpfe entſtehen, denn der<lb/>
Rath von Straßburg ſieht ſich gar genöthigt, das falſche Haar zu<lb/>
verbieten. Ein ſchöner, ächter Frauenzopf konnte aber hoch gefeiert<lb/>
werden, wie es jenem geſchah, den ſich einſt eine ſchöne Frau für<lb/>
einen Herzog von Oeſterreich abſchnitt. Der Herzog ſtiftete ihm<lb/>
zu Ehren eine ritterliche Geſellſchaft, genannt „vom Zopf.“</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[214/0232]
II. Das Mittelalter.
andern Moden war auch dieſe ein Erzeugniß des vierzehnten Jahr-
hunderts. Schon in der Mitte deſſelben trugen die Frauen den
Ausſchnitt ſo tief, daß man die halben Brüſte ſah. Die Kleider-
geſetze, eines nach dem andern, ſuchen umſonſt das wachſende
Uebel zu beſchränken und vergebens ſchreiben ſie aufs genauſte die
Größe des Hauptloches vor und auf Fingerbreite, wie weit das
Kleid auf den Achſeln aufliegen ſoll. Es war ein Kampf wider
Wind und Strom.
Mit dieſer Neigung zu decolletiren, iſt die Umwandlung, welche
gleichzeitig die Haartracht erlitt, in Verbindung zu ſetzen. Um
die blendende Weiße des Nackens und Rückens zur vollen Geltung
zu bringen, mußten die langen, wallenden Locken, wie ſie noch
im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, ſelbſt bei verheiratheten
Damen, über die Schultern und den Rücken herabfloſſen, ihrer
Freiheit beraubt werden. Der einen Schönheit wurde die andere
zum Opfer gebracht. Es wurde, wie wir ſchon am Schluß des
vorigen Capitels angedeutet haben, allgemeine Sitte, das Haar
aufzubinden; nur Jungfrauen vornehmſten Standes, unverhei-
rathete Prinzeſſinnen und zuweilen auch verheirathete Fürſtinnen
machen eine Ausnahme zu Gunſten der alten Mode des langen
Lockenfluſſes. Gewöhnlich iſt das Haar über der Stirn geſcheitelt
und in zwei Zöpfe geflochten, welche zu beiden Seiten um die
Ohren gelegt ſind. Jungfrauen ließen auch wohl die Flechten
herunterhängen; Frauen war das z. B. vom überſorgſamen Rath
zu Speier ausdrücklich verboten worden. In der Art, wie die
Flechten gelegt, wie ſie auf dem Kopfe befeſtigt oder mit einigen
kleinen Locken an der Wange verbunden, namentlich aber, wie ſie
mit Schmuck verſehen wurden, blieb dem individuellen Geſchmack
der Frauen noch vieles überlaſſen. Zuweilen konnten auch ge-
gründete Zweifel über die Aechtheit der Zöpfe entſtehen, denn der
Rath von Straßburg ſieht ſich gar genöthigt, das falſche Haar zu
verbieten. Ein ſchöner, ächter Frauenzopf konnte aber hoch gefeiert
werden, wie es jenem geſchah, den ſich einſt eine ſchöne Frau für
einen Herzog von Oeſterreich abſchnitt. Der Herzog ſtiftete ihm
zu Ehren eine ritterliche Geſellſchaft, genannt „vom Zopf.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/232>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.