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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
unterworfen sind, behaupten sich mit bemerkenswerther Conse-
quenz die lange Regirung Philipps des Guten und Karls des
Kühnen im Besitz aller Damenköpfe, wenn sie auch einzelnen
mehr oder minder abweichenden Haubenarten eine Existenz neben
sich gewähren müssen. Es ist grade so mit der übrigen gesamm-
ten Tracht der Herren und der Damen; bei so vielerlei kleinen
Verschiedenheiten ist im Grundcharakter und in den Hauptformen
eine große Stetigkeit wahrzunehmen. Wir wollen nicht behaup-
ten, daß es in den bürgerlichen Kreisen der Niederlande in dem-
selben Grade ebenso gewesen sei, doch war es ähnlich. Der bur-
gundische Hof erscheint hier gewissermaßen als der Regulator der
Moden, und wie die Etiquette selbst, deren Begriff schon die un-
veränderliche, erstarrte Form ist, aller Entwicklung und Fortbil-
dung widerstrebt, so mußte auch die Kleidung stet bleiben, da die
Gesetze der Etiquette vielfach an bestimmte Formen derselben ge-
bunden sind. Ganz dasselbe wiederholt sich im siebzehnten Jahr-
hundert mit Ludwig XIV.

Mit dem Fall Karls des Kühnen und dem Sturz des bur-
gundischen Hofes ändert sich auf einmal die ganze Sache. Nie-
mand ist mehr da, der vorschreibt, was nobel und vornehm ist;
ein jeder erscheint seinen Launen und seinen Einfällen überlassen,
mit denen er freilich nicht aus dem allgemeinen Geschmack her-
austreten kann. Auch war die Zeit noch nicht gekommen, wo die
Sittenzustände sich gebessert hätten: alles war noch in der Auf-
lösung begriffen, und die reichen Niederlande, der Mittelpunkt
des Weltverkehrs, standen nicht hinter andern zurück. Die Folge
ist, daß nun in kürzester Frist eine unglaubliche Menge der ver-
schiedenartigsten Moden auftaucht, die, wenn auch weniger barock
und unsinnig als Schnabelschuhe, Schellen und Zattelverschwen-
dung, an Charakterlosigkeit alles übertrifft, was bisher dagewe-
sen ist. Es scheint unmöglich hier bestimmte Hauptformen heraus-
greifen zu wollen, um welche sich die übrigen gruppirten. Jede
scheint der andern zu widersprechen und leidet zugleich an eignem
Widerspruch. Die gespannteste Enge, die jedes Auge beleidigt,
Jacken und Mäntelchen, die auf ein paar winzige Lappen reducirt

2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
unterworfen ſind, behaupten ſich mit bemerkenswerther Conſe-
quenz die lange Regirung Philipps des Guten und Karls des
Kühnen im Beſitz aller Damenköpfe, wenn ſie auch einzelnen
mehr oder minder abweichenden Haubenarten eine Exiſtenz neben
ſich gewähren müſſen. Es iſt grade ſo mit der übrigen geſamm-
ten Tracht der Herren und der Damen; bei ſo vielerlei kleinen
Verſchiedenheiten iſt im Grundcharakter und in den Hauptformen
eine große Stetigkeit wahrzunehmen. Wir wollen nicht behaup-
ten, daß es in den bürgerlichen Kreiſen der Niederlande in dem-
ſelben Grade ebenſo geweſen ſei, doch war es ähnlich. Der bur-
gundiſche Hof erſcheint hier gewiſſermaßen als der Regulator der
Moden, und wie die Etiquette ſelbſt, deren Begriff ſchon die un-
veränderliche, erſtarrte Form iſt, aller Entwicklung und Fortbil-
dung widerſtrebt, ſo mußte auch die Kleidung ſtet bleiben, da die
Geſetze der Etiquette vielfach an beſtimmte Formen derſelben ge-
bunden ſind. Ganz daſſelbe wiederholt ſich im ſiebzehnten Jahr-
hundert mit Ludwig XIV.

Mit dem Fall Karls des Kühnen und dem Sturz des bur-
gundiſchen Hofes ändert ſich auf einmal die ganze Sache. Nie-
mand iſt mehr da, der vorſchreibt, was nobel und vornehm iſt;
ein jeder erſcheint ſeinen Launen und ſeinen Einfällen überlaſſen,
mit denen er freilich nicht aus dem allgemeinen Geſchmack her-
austreten kann. Auch war die Zeit noch nicht gekommen, wo die
Sittenzuſtände ſich gebeſſert hätten: alles war noch in der Auf-
löſung begriffen, und die reichen Niederlande, der Mittelpunkt
des Weltverkehrs, ſtanden nicht hinter andern zurück. Die Folge
iſt, daß nun in kürzeſter Friſt eine unglaubliche Menge der ver-
ſchiedenartigſten Moden auftaucht, die, wenn auch weniger barock
und unſinnig als Schnabelſchuhe, Schellen und Zattelverſchwen-
dung, an Charakterloſigkeit alles übertrifft, was bisher dagewe-
ſen iſt. Es ſcheint unmöglich hier beſtimmte Hauptformen heraus-
greifen zu wollen, um welche ſich die übrigen gruppirten. Jede
ſcheint der andern zu widerſprechen und leidet zugleich an eignem
Widerſpruch. Die geſpannteſte Enge, die jedes Auge beleidigt,
Jacken und Mäntelchen, die auf ein paar winzige Lappen reducirt

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[277/0295] 2. Die Zeit des Luxus und der Entartung. unterworfen ſind, behaupten ſich mit bemerkenswerther Conſe- quenz die lange Regirung Philipps des Guten und Karls des Kühnen im Beſitz aller Damenköpfe, wenn ſie auch einzelnen mehr oder minder abweichenden Haubenarten eine Exiſtenz neben ſich gewähren müſſen. Es iſt grade ſo mit der übrigen geſamm- ten Tracht der Herren und der Damen; bei ſo vielerlei kleinen Verſchiedenheiten iſt im Grundcharakter und in den Hauptformen eine große Stetigkeit wahrzunehmen. Wir wollen nicht behaup- ten, daß es in den bürgerlichen Kreiſen der Niederlande in dem- ſelben Grade ebenſo geweſen ſei, doch war es ähnlich. Der bur- gundiſche Hof erſcheint hier gewiſſermaßen als der Regulator der Moden, und wie die Etiquette ſelbſt, deren Begriff ſchon die un- veränderliche, erſtarrte Form iſt, aller Entwicklung und Fortbil- dung widerſtrebt, ſo mußte auch die Kleidung ſtet bleiben, da die Geſetze der Etiquette vielfach an beſtimmte Formen derſelben ge- bunden ſind. Ganz daſſelbe wiederholt ſich im ſiebzehnten Jahr- hundert mit Ludwig XIV. Mit dem Fall Karls des Kühnen und dem Sturz des bur- gundiſchen Hofes ändert ſich auf einmal die ganze Sache. Nie- mand iſt mehr da, der vorſchreibt, was nobel und vornehm iſt; ein jeder erſcheint ſeinen Launen und ſeinen Einfällen überlaſſen, mit denen er freilich nicht aus dem allgemeinen Geſchmack her- austreten kann. Auch war die Zeit noch nicht gekommen, wo die Sittenzuſtände ſich gebeſſert hätten: alles war noch in der Auf- löſung begriffen, und die reichen Niederlande, der Mittelpunkt des Weltverkehrs, ſtanden nicht hinter andern zurück. Die Folge iſt, daß nun in kürzeſter Friſt eine unglaubliche Menge der ver- ſchiedenartigſten Moden auftaucht, die, wenn auch weniger barock und unſinnig als Schnabelſchuhe, Schellen und Zattelverſchwen- dung, an Charakterloſigkeit alles übertrifft, was bisher dagewe- ſen iſt. Es ſcheint unmöglich hier beſtimmte Hauptformen heraus- greifen zu wollen, um welche ſich die übrigen gruppirten. Jede ſcheint der andern zu widerſprechen und leidet zugleich an eignem Widerſpruch. Die geſpannteſte Enge, die jedes Auge beleidigt, Jacken und Mäntelchen, die auf ein paar winzige Lappen reducirt

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/295>, abgerufen am 22.11.2024.