Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.II. Das Mittelalter. Aber darum wurde es nicht besser. Die Welt wurde nicht Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit- "Pfui Schand der deutschen Nation! Was die Natur verdeckt will ha'n, Daß man das blößt und sehen läßt." Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung II. Das Mittelalter. Aber darum wurde es nicht beſſer. Die Welt wurde nicht Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit- „Pfui Schand der deutſchen Nation! Was die Natur verdeckt will ha’n, Daß man das blößt und ſehen läßt.“ Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0302" n="284"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Das Mittelalter.</fw><lb/> <p>Aber darum wurde es nicht beſſer. Die Welt wurde nicht<lb/> ernſter, wenn auch grade zu derſelben Zeit die Kunſt und die<lb/> Wiſſenſchaft ſich in raſchem Flug zu völlig ungeahnter Höhe em-<lb/> porſchwangen, wenn auch die Buchdruckerkunſt, kaum erfunden,<lb/> die Geiſter mit ernſteren Dingen zu erfüllen ſuchte, wenn eine<lb/> Erfindung der andern folgte, und das ſtädtiſche Gewerbe überall<lb/> zu künſtleriſcher Bedeutung erblühte. Es war ein luſtiges, leicht-<lb/> fertiges, eitles, phantaſtiſch aufgeregtes Geſchlecht, und alle war-<lb/> nenden Stimmen, die ſtrafenden Worte der Prediger, die beißen-<lb/> den Verſe der Satiriker ſchlugen vergebens ans ſorgloſe Gewiſſen.<lb/> Es war nicht aufzuſchrecken aus dem Sinnentaumel. Die Mode<lb/> trieb es immer toller, indem ſie alle Form und alle Sitte zugleich<lb/> verachtete. Da in Deutſchland kein Hof war, der die Formen der<lb/> Eleganz vorſchrieb und beherrſchte, wie in Frankreich und Bur-<lb/> gund, ſo ſchien alles der individuellen Laune und Erfindungs-<lb/> gabe überlaſſen, und das ſo ſehr, daß die Obrigkeit hier und da<lb/> ausdrücklich das Erfinden neuer Moden verbot. Das Herein-<lb/> brechen burgundiſcher Trachten und niederländiſcher Stoffe ver-<lb/> mehrte das Uebel, anſtatt es einzuſchränken, da ſie die Willkür<lb/> nicht zu unterdrücken vermochten.</p><lb/> <p>Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit-<lb/> tenloſigkeit aller Stände die wachſende Schamloſigkeit der Klei-<lb/> dung in Bezug auf Enge, Kürze und Entblößung. Die Chro-<lb/> niſten, die Dichter, die Prediger ſind des Entſetzens in gleicher<lb/> Weiſe voll und ſchildern zuweilen mit ſo harten und offenkun-<lb/> digen Worten, daß wir ſie hier nicht wiedergeben können. Die<lb/> weiſen Väter in den Städten mühten ſich vergebens ab, auf ge-<lb/> ſetzlichem Wege dem Uebel zu ſteuern. Noch am Ende des Jahr-<lb/> hunderts bricht Sebaſtian Brant in die Worte aus:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Pfui Schand der deutſchen Nation!</l><lb/> <l>Was die Natur verdeckt will ha’n,</l><lb/> <l>Daß man das blößt und ſehen läßt.“</l> </lg><lb/> <p>Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung<lb/> der Frauen im Gedicht Kittel mit vollſter Entrüſtung geſchildert.<lb/> Der Dichter erzählt, die Hauptlöcher ſeien ſo weit, daß die Achſel<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [284/0302]
II. Das Mittelalter.
Aber darum wurde es nicht beſſer. Die Welt wurde nicht
ernſter, wenn auch grade zu derſelben Zeit die Kunſt und die
Wiſſenſchaft ſich in raſchem Flug zu völlig ungeahnter Höhe em-
porſchwangen, wenn auch die Buchdruckerkunſt, kaum erfunden,
die Geiſter mit ernſteren Dingen zu erfüllen ſuchte, wenn eine
Erfindung der andern folgte, und das ſtädtiſche Gewerbe überall
zu künſtleriſcher Bedeutung erblühte. Es war ein luſtiges, leicht-
fertiges, eitles, phantaſtiſch aufgeregtes Geſchlecht, und alle war-
nenden Stimmen, die ſtrafenden Worte der Prediger, die beißen-
den Verſe der Satiriker ſchlugen vergebens ans ſorgloſe Gewiſſen.
Es war nicht aufzuſchrecken aus dem Sinnentaumel. Die Mode
trieb es immer toller, indem ſie alle Form und alle Sitte zugleich
verachtete. Da in Deutſchland kein Hof war, der die Formen der
Eleganz vorſchrieb und beherrſchte, wie in Frankreich und Bur-
gund, ſo ſchien alles der individuellen Laune und Erfindungs-
gabe überlaſſen, und das ſo ſehr, daß die Obrigkeit hier und da
ausdrücklich das Erfinden neuer Moden verbot. Das Herein-
brechen burgundiſcher Trachten und niederländiſcher Stoffe ver-
mehrte das Uebel, anſtatt es einzuſchränken, da ſie die Willkür
nicht zu unterdrücken vermochten.
Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit-
tenloſigkeit aller Stände die wachſende Schamloſigkeit der Klei-
dung in Bezug auf Enge, Kürze und Entblößung. Die Chro-
niſten, die Dichter, die Prediger ſind des Entſetzens in gleicher
Weiſe voll und ſchildern zuweilen mit ſo harten und offenkun-
digen Worten, daß wir ſie hier nicht wiedergeben können. Die
weiſen Väter in den Städten mühten ſich vergebens ab, auf ge-
ſetzlichem Wege dem Uebel zu ſteuern. Noch am Ende des Jahr-
hunderts bricht Sebaſtian Brant in die Worte aus:
„Pfui Schand der deutſchen Nation!
Was die Natur verdeckt will ha’n,
Daß man das blößt und ſehen läßt.“
Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung
der Frauen im Gedicht Kittel mit vollſter Entrüſtung geſchildert.
Der Dichter erzählt, die Hauptlöcher ſeien ſo weit, daß die Achſel
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