Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.III. Die Neuzeit. wird bis zur Unnatur fortgesetzt, die Taille rückt großen Theilsbis hart unter die Brüste, die übermäßigen Schleppen hindern die Bewegung, die Aermel verlängern und erweitern sich ins Ungemessene, und die wachsende Decolletirung legt Brust und Rücken bloß bis hinab zum Gürtel. Daneben blühen die Thor- heiten der flatternden Zattel, der klingenden Schellen, der Schna- belschuhe und der klappernden Pantoffel. Im Wesentlichen herrscht dieser Zustand noch auf der Es vereinigten sich gar viele Momente um die angegebene Mit dem Verfall des Lehnswesens, der Turniere, der He- III. Die Neuzeit. wird bis zur Unnatur fortgeſetzt, die Taille rückt großen Theilsbis hart unter die Brüſte, die übermäßigen Schleppen hindern die Bewegung, die Aermel verlängern und erweitern ſich ins Ungemeſſene, und die wachſende Decolletirung legt Bruſt und Rücken bloß bis hinab zum Gürtel. Daneben blühen die Thor- heiten der flatternden Zattel, der klingenden Schellen, der Schna- belſchuhe und der klappernden Pantoffel. Im Weſentlichen herrſcht dieſer Zuſtand noch auf der Es vereinigten ſich gar viele Momente um die angegebene Mit dem Verfall des Lehnsweſens, der Turniere, der He- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0018" n="6"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Die Neuzeit.</fw><lb/> wird bis zur Unnatur fortgeſetzt, die Taille rückt großen Theils<lb/> bis hart unter die Brüſte, die übermäßigen Schleppen hindern<lb/> die Bewegung, die Aermel verlängern und erweitern ſich ins<lb/> Ungemeſſene, und die wachſende Decolletirung legt Bruſt und<lb/> Rücken bloß bis hinab zum Gürtel. Daneben blühen die Thor-<lb/> heiten der flatternden Zattel, der klingenden Schellen, der Schna-<lb/> belſchuhe und der klappernden Pantoffel.</p><lb/> <p>Im Weſentlichen herrſcht dieſer Zuſtand noch auf der<lb/> Scheide des funfzehnten und ſechszehnten Jahrhunderts. Was<lb/> noth thut, iſt leicht zu bemerken: Maßhaltigkeit und Zucht,<lb/> äſthetiſche wie moraliſche; der Leichtfertigkeit, der unbequemen<lb/> Enge, den läſtigen und widerſinnigen Moden mußte größerer<lb/> Anſtand, Freiheit der Bewegung und eine gewiſſe Vernunft-<lb/> mäßigkeit in feſten, faßbaren Formen entgegentreten. Freiheit<lb/> und Charakter waren es, was in die zerfahrene Welt der Trach-<lb/> ten und Moden einkehren mußte, grade wie im Uebrigen die<lb/> abendländiſche Welt einer ähnlichen Regeneration bedurfte. Mit<lb/> dem Ausſterben des mittelalterlichen Geiſtes war ihr der Boden<lb/> unter den Füßen verſchwunden, und der verlorne Halt mußte ihr<lb/> wiedergegeben werden.</p><lb/> <p>Es vereinigten ſich gar viele Momente um die angegebene<lb/> Zeit, dieſes Reſultat herbeizuführen. Hier genügt es, den ge-<lb/> waltigen Umſchwung anzudeuten, in deſſen Strömung das Coſtüm<lb/> hineingezogen wurde. Von der allgemeinen Erſchütterung und<lb/> Umwandlung blieb kein Stand, keine Lebensſphäre, keine Thä-<lb/> tigkeit unergriffen: Fürſten und Adel wie Kaiſer und Reich,<lb/> Städter und Bauer, der Gelehrte, der Geiſtliche und das Waf-<lb/> fenhandwerk, Handel, Gewerbe und Kunſt — ſie alle wurden in<lb/> gleicher Weiſe mitgeriſſen und tragen fortan die deutlichen Spu-<lb/> ren der neuen Zeit.</p><lb/> <p>Mit dem Verfall des Lehnsweſens, der Turniere, der He-<lb/> raldik waren dem Ritterthum die Lebensbedingungen abgeſchnit-<lb/> ten, und ſo trat der alte Adel ſeine politiſchen und ſocialen Vor-<lb/> rechte einerſeits den Fürſten, andrerſeits dem dritten Stand ab.<lb/> Damit lockert ſich auch ſocial die ſtrenge Gliederung der alten<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0018]
III. Die Neuzeit.
wird bis zur Unnatur fortgeſetzt, die Taille rückt großen Theils
bis hart unter die Brüſte, die übermäßigen Schleppen hindern
die Bewegung, die Aermel verlängern und erweitern ſich ins
Ungemeſſene, und die wachſende Decolletirung legt Bruſt und
Rücken bloß bis hinab zum Gürtel. Daneben blühen die Thor-
heiten der flatternden Zattel, der klingenden Schellen, der Schna-
belſchuhe und der klappernden Pantoffel.
Im Weſentlichen herrſcht dieſer Zuſtand noch auf der
Scheide des funfzehnten und ſechszehnten Jahrhunderts. Was
noth thut, iſt leicht zu bemerken: Maßhaltigkeit und Zucht,
äſthetiſche wie moraliſche; der Leichtfertigkeit, der unbequemen
Enge, den läſtigen und widerſinnigen Moden mußte größerer
Anſtand, Freiheit der Bewegung und eine gewiſſe Vernunft-
mäßigkeit in feſten, faßbaren Formen entgegentreten. Freiheit
und Charakter waren es, was in die zerfahrene Welt der Trach-
ten und Moden einkehren mußte, grade wie im Uebrigen die
abendländiſche Welt einer ähnlichen Regeneration bedurfte. Mit
dem Ausſterben des mittelalterlichen Geiſtes war ihr der Boden
unter den Füßen verſchwunden, und der verlorne Halt mußte ihr
wiedergegeben werden.
Es vereinigten ſich gar viele Momente um die angegebene
Zeit, dieſes Reſultat herbeizuführen. Hier genügt es, den ge-
waltigen Umſchwung anzudeuten, in deſſen Strömung das Coſtüm
hineingezogen wurde. Von der allgemeinen Erſchütterung und
Umwandlung blieb kein Stand, keine Lebensſphäre, keine Thä-
tigkeit unergriffen: Fürſten und Adel wie Kaiſer und Reich,
Städter und Bauer, der Gelehrte, der Geiſtliche und das Waf-
fenhandwerk, Handel, Gewerbe und Kunſt — ſie alle wurden in
gleicher Weiſe mitgeriſſen und tragen fortan die deutlichen Spu-
ren der neuen Zeit.
Mit dem Verfall des Lehnsweſens, der Turniere, der He-
raldik waren dem Ritterthum die Lebensbedingungen abgeſchnit-
ten, und ſo trat der alte Adel ſeine politiſchen und ſocialen Vor-
rechte einerſeits den Fürſten, andrerſeits dem dritten Stand ab.
Damit lockert ſich auch ſocial die ſtrenge Gliederung der alten
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