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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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III. Die Neuzeit.
lungen, Traumerscheinungen, Himmel und Hölle, die Allegorie,
das Ballet, die Musik, Illumination und Feuerwerk, gemischt
mit Prügeleien und den unfläthigen Possen Hanswursts, mit
equilibristischen und akrobatischen Künsten bilden den perrücken-
artig krausen und massenhaften Inhalt einer "Haupt- und
Staatsaction." Der übertriebenen Ausdrucksweise entsprach ein
fratzenhaftes Gebärdenspiel, ein Herumfahren auf der Bühne,
die maßlose Darstellungweise autodidaktischer Kraftgenies. Der
Krieg hatte die Menschen an den Anblick des Scheußlichsten ge-
wöhnt, und das Theater setzte das fort. Ein Hauptmittel des
Reizes für das männliche und weibliche Publikum war die Er-
regung der geheimen Lust des Grausens und Entsetzens. So
wurden alle ekelhaften Scheußlichkeiten auf der Bühne offen auf-
geführt. Judas erhängt sich, der Bauch platzt und die Gedärme
fallen heraus; die Söhne des Andronicus werden abgeschlachtet
und ihr Blut in Schalen aufgefangen; das Aufhängen und
Köpfen geschieht in möglichster Natürlichkeit, und die Leichen
und abgeschlagenen Köpfe bleiben zur Ausstellung liegen; Ge-
spenster erscheinen "mit dem abgehauenen Kopf in der Hand und
entblößtem blutigen Störtzel;" dazu die Qualen der Märtyrer,
der Gespießten und im Feuer Aufgehängten: das war die
Augenweide des guten bürgerlichen Publikums nach dem dreißig-
jährigen Krieg. Und wie widerlich klingt dabei im Umgang und
in Liebesscenen der Bühnenprinzen und Prinzessinnen der ge-
spreizt ceremoniöse Ton, die geschraubten Complimente, die don-
quichotische Höflichkeit, die Handküsse, die mit granziöser Ver-
beugung der eigenen Hand applicirt werden, der ganze steife, zur
Carricatur gewordene, widerlich vornehme Hofton, gepaart mit
Lüsternheit, mit Küssen und Zärtlichkeiten, mit verzweiflungs-
vollen Betrachtungen über die Macht der Venus und Lobprei-
sungen der Tugend.

In ähnlicher Weise mußte für die vornehmen Stände die
Oper alle nur erdenklichen Reizmittel loslassen. Es ist schon
bezeichnend, daß grade die Oper Liebling dieses Geschlechts
wurde, welches nicht zu Gedanken und wahren Empfindungen

III. Die Neuzeit.
lungen, Traumerſcheinungen, Himmel und Hölle, die Allegorie,
das Ballet, die Muſik, Illumination und Feuerwerk, gemiſcht
mit Prügeleien und den unfläthigen Poſſen Hanswurſts, mit
equilibriſtiſchen und akrobatiſchen Künſten bilden den perrücken-
artig krauſen und maſſenhaften Inhalt einer „Haupt- und
Staatsaction.“ Der übertriebenen Ausdrucksweiſe entſprach ein
fratzenhaftes Gebärdenſpiel, ein Herumfahren auf der Bühne,
die maßloſe Darſtellungweiſe autodidaktiſcher Kraftgenies. Der
Krieg hatte die Menſchen an den Anblick des Scheußlichſten ge-
wöhnt, und das Theater ſetzte das fort. Ein Hauptmittel des
Reizes für das männliche und weibliche Publikum war die Er-
regung der geheimen Luſt des Grauſens und Entſetzens. So
wurden alle ekelhaften Scheußlichkeiten auf der Bühne offen auf-
geführt. Judas erhängt ſich, der Bauch platzt und die Gedärme
fallen heraus; die Söhne des Andronicus werden abgeſchlachtet
und ihr Blut in Schalen aufgefangen; das Aufhängen und
Köpfen geſchieht in möglichſter Natürlichkeit, und die Leichen
und abgeſchlagenen Köpfe bleiben zur Ausſtellung liegen; Ge-
ſpenſter erſcheinen „mit dem abgehauenen Kopf in der Hand und
entblößtem blutigen Störtzel;“ dazu die Qualen der Märtyrer,
der Geſpießten und im Feuer Aufgehängten: das war die
Augenweide des guten bürgerlichen Publikums nach dem dreißig-
jährigen Krieg. Und wie widerlich klingt dabei im Umgang und
in Liebesſcenen der Bühnenprinzen und Prinzeſſinnen der ge-
ſpreizt ceremoniöſe Ton, die geſchraubten Complimente, die don-
quichotiſche Höflichkeit, die Handküſſe, die mit granziöſer Ver-
beugung der eigenen Hand applicirt werden, der ganze ſteife, zur
Carricatur gewordene, widerlich vornehme Hofton, gepaart mit
Lüſternheit, mit Küſſen und Zärtlichkeiten, mit verzweiflungs-
vollen Betrachtungen über die Macht der Venus und Lobprei-
ſungen der Tugend.

In ähnlicher Weiſe mußte für die vornehmen Stände die
Oper alle nur erdenklichen Reizmittel loslaſſen. Es iſt ſchon
bezeichnend, daß grade die Oper Liebling dieſes Geſchlechts
wurde, welches nicht zu Gedanken und wahren Empfindungen

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[218/0230] III. Die Neuzeit. lungen, Traumerſcheinungen, Himmel und Hölle, die Allegorie, das Ballet, die Muſik, Illumination und Feuerwerk, gemiſcht mit Prügeleien und den unfläthigen Poſſen Hanswurſts, mit equilibriſtiſchen und akrobatiſchen Künſten bilden den perrücken- artig krauſen und maſſenhaften Inhalt einer „Haupt- und Staatsaction.“ Der übertriebenen Ausdrucksweiſe entſprach ein fratzenhaftes Gebärdenſpiel, ein Herumfahren auf der Bühne, die maßloſe Darſtellungweiſe autodidaktiſcher Kraftgenies. Der Krieg hatte die Menſchen an den Anblick des Scheußlichſten ge- wöhnt, und das Theater ſetzte das fort. Ein Hauptmittel des Reizes für das männliche und weibliche Publikum war die Er- regung der geheimen Luſt des Grauſens und Entſetzens. So wurden alle ekelhaften Scheußlichkeiten auf der Bühne offen auf- geführt. Judas erhängt ſich, der Bauch platzt und die Gedärme fallen heraus; die Söhne des Andronicus werden abgeſchlachtet und ihr Blut in Schalen aufgefangen; das Aufhängen und Köpfen geſchieht in möglichſter Natürlichkeit, und die Leichen und abgeſchlagenen Köpfe bleiben zur Ausſtellung liegen; Ge- ſpenſter erſcheinen „mit dem abgehauenen Kopf in der Hand und entblößtem blutigen Störtzel;“ dazu die Qualen der Märtyrer, der Geſpießten und im Feuer Aufgehängten: das war die Augenweide des guten bürgerlichen Publikums nach dem dreißig- jährigen Krieg. Und wie widerlich klingt dabei im Umgang und in Liebesſcenen der Bühnenprinzen und Prinzeſſinnen der ge- ſpreizt ceremoniöſe Ton, die geſchraubten Complimente, die don- quichotiſche Höflichkeit, die Handküſſe, die mit granziöſer Ver- beugung der eigenen Hand applicirt werden, der ganze ſteife, zur Carricatur gewordene, widerlich vornehme Hofton, gepaart mit Lüſternheit, mit Küſſen und Zärtlichkeiten, mit verzweiflungs- vollen Betrachtungen über die Macht der Venus und Lobprei- ſungen der Tugend. In ähnlicher Weiſe mußte für die vornehmen Stände die Oper alle nur erdenklichen Reizmittel loslaſſen. Es iſt ſchon bezeichnend, daß grade die Oper Liebling dieſes Geſchlechts wurde, welches nicht zu Gedanken und wahren Empfindungen

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/230>, abgerufen am 24.11.2024.