da man von aller Oeffentlichkeit abgezogen die harmlosen Ge- sellschaftslieder von Rosen und Veilchen und dem Pfeifchen voll Knaster sang, da man sich die zarten, blumigen Stammbuchverse schrieb mit den Versicherungen ewiger Liebe und Freundschaft und den Vergißmeinnichtkranz dazu malte oder in sentimentaler Rührung unter der Trauerweide den bemoosten Stein und den Aschenkrug.
Das war eigentlich die einzige Opposition, welche diese Welt den unnatürlichen Zuständen, von denen sie wohl ein Ge- fühl, aber kein Bewußtsein hatte, zu bieten wagte: Sentimen- talität und Thränenseligkeit. Wie dem kummerbedrückten Men- schen unter Thränen die Erleichterung des Herzens kommt, so fand auch diese an Seele und Charakter kranke Welt Trost und Beruhigung und endlich selbst Genuß und Vergnügen in Thränen- bächen. Man glaubt sie rinnen und rieseln zu hören, seitdem Miller's Siegwart die Schleusen geöffnet hat -- so reichlich fließen sie. Dieser Zug der Wehmuth, der die Harmlosigkeit des Da- seins unterbricht, ist das unbewußte Suchen und Sehnen nach der verlornen Natur und Wahrheit, die man erst im Donner- sturm der Revolutionsperiode wieder finden sollte. Daß das Gewitter so nahe sei, davon hatte man in diesen Kreisen keine Ahnung: hier trank und sang man, liebte und küßte, sprach von den Angelegenheiten des Hauses und des Herzens, und dann ging man hinaus, sah in den Mond, der bei solchen Gelegen- heiten immer schien, und löste sich in Thränen seliger Rührung auf -- man wußte nicht warum und wie. Und natürlich, wie die Menschen weich und wehmüthig wurden, so schlugen die Nachtigallen klagender, Nachtviolen und Levkojen und Apfel- blüthen dufteten süßer, den Schafen und Ziegen gingen die Augen über -- kurz, die belebte und unbelebte Natur gab den Menschen ihre volle Theilnahme zu erkennen.
Diesem ganzen städtischen und ländlichen Idyllenwesen, dem geßnerischen wie auch dem vossischen, der thränenfeuchten Siegwarterei und dem halberstädtischen Freundschaftsbunde, der oberflächlichen Aufklärung und eben so der Geheimbündelei,
5. Die Periode des Zopfes und die Revolution.
da man von aller Oeffentlichkeit abgezogen die harmloſen Ge- ſellſchaftslieder von Roſen und Veilchen und dem Pfeifchen voll Knaſter ſang, da man ſich die zarten, blumigen Stammbuchverſe ſchrieb mit den Verſicherungen ewiger Liebe und Freundſchaft und den Vergißmeinnichtkranz dazu malte oder in ſentimentaler Rührung unter der Trauerweide den bemooſten Stein und den Aſchenkrug.
Das war eigentlich die einzige Oppoſition, welche dieſe Welt den unnatürlichen Zuſtänden, von denen ſie wohl ein Ge- fühl, aber kein Bewußtſein hatte, zu bieten wagte: Sentimen- talität und Thränenſeligkeit. Wie dem kummerbedrückten Men- ſchen unter Thränen die Erleichterung des Herzens kommt, ſo fand auch dieſe an Seele und Charakter kranke Welt Troſt und Beruhigung und endlich ſelbſt Genuß und Vergnügen in Thränen- bächen. Man glaubt ſie rinnen und rieſeln zu hören, ſeitdem Miller’s Siegwart die Schleuſen geöffnet hat — ſo reichlich fließen ſie. Dieſer Zug der Wehmuth, der die Harmloſigkeit des Da- ſeins unterbricht, iſt das unbewußte Suchen und Sehnen nach der verlornen Natur und Wahrheit, die man erſt im Donner- ſturm der Revolutionsperiode wieder finden ſollte. Daß das Gewitter ſo nahe ſei, davon hatte man in dieſen Kreiſen keine Ahnung: hier trank und ſang man, liebte und küßte, ſprach von den Angelegenheiten des Hauſes und des Herzens, und dann ging man hinaus, ſah in den Mond, der bei ſolchen Gelegen- heiten immer ſchien, und löſte ſich in Thränen ſeliger Rührung auf — man wußte nicht warum und wie. Und natürlich, wie die Menſchen weich und wehmüthig wurden, ſo ſchlugen die Nachtigallen klagender, Nachtviolen und Levkojen und Apfel- blüthen dufteten ſüßer, den Schafen und Ziegen gingen die Augen über — kurz, die belebte und unbelebte Natur gab den Menſchen ihre volle Theilnahme zu erkennen.
Dieſem ganzen ſtädtiſchen und ländlichen Idyllenweſen, dem geßneriſchen wie auch dem voſſiſchen, der thränenfeuchten Siegwarterei und dem halberſtädtiſchen Freundſchaftsbunde, der oberflächlichen Aufklärung und eben ſo der Geheimbündelei,
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5. Die Periode des Zopfes und die Revolution.
da man von aller Oeffentlichkeit abgezogen die harmloſen Ge-
ſellſchaftslieder von Roſen und Veilchen und dem Pfeifchen voll
Knaſter ſang, da man ſich die zarten, blumigen Stammbuchverſe
ſchrieb mit den Verſicherungen ewiger Liebe und Freundſchaft
und den Vergißmeinnichtkranz dazu malte oder in ſentimentaler
Rührung unter der Trauerweide den bemooſten Stein und den
Aſchenkrug.
Das war eigentlich die einzige Oppoſition, welche dieſe
Welt den unnatürlichen Zuſtänden, von denen ſie wohl ein Ge-
fühl, aber kein Bewußtſein hatte, zu bieten wagte: Sentimen-
talität und Thränenſeligkeit. Wie dem kummerbedrückten Men-
ſchen unter Thränen die Erleichterung des Herzens kommt, ſo
fand auch dieſe an Seele und Charakter kranke Welt Troſt und
Beruhigung und endlich ſelbſt Genuß und Vergnügen in Thränen-
bächen. Man glaubt ſie rinnen und rieſeln zu hören, ſeitdem
Miller’s Siegwart die Schleuſen geöffnet hat — ſo reichlich fließen
ſie. Dieſer Zug der Wehmuth, der die Harmloſigkeit des Da-
ſeins unterbricht, iſt das unbewußte Suchen und Sehnen nach
der verlornen Natur und Wahrheit, die man erſt im Donner-
ſturm der Revolutionsperiode wieder finden ſollte. Daß das
Gewitter ſo nahe ſei, davon hatte man in dieſen Kreiſen keine
Ahnung: hier trank und ſang man, liebte und küßte, ſprach von
den Angelegenheiten des Hauſes und des Herzens, und dann
ging man hinaus, ſah in den Mond, der bei ſolchen Gelegen-
heiten immer ſchien, und löſte ſich in Thränen ſeliger Rührung
auf — man wußte nicht warum und wie. Und natürlich, wie
die Menſchen weich und wehmüthig wurden, ſo ſchlugen die
Nachtigallen klagender, Nachtviolen und Levkojen und Apfel-
blüthen dufteten ſüßer, den Schafen und Ziegen gingen die
Augen über — kurz, die belebte und unbelebte Natur gab den
Menſchen ihre volle Theilnahme zu erkennen.
Dieſem ganzen ſtädtiſchen und ländlichen Idyllenweſen,
dem geßneriſchen wie auch dem voſſiſchen, der thränenfeuchten
Siegwarterei und dem halberſtädtiſchen Freundſchaftsbunde, der
oberflächlichen Aufklärung und eben ſo der Geheimbündelei,
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/307>, abgerufen am 27.07.2024.
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