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Fassmann, David: Der Gelehrte Narr. Freiburg, 1729.

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tum Miseriae nicht recht genau untersuchet haben, so werden sie insgemein toll-
kühn und kriegen überhaupt mehr als eine allzufreye Hardiesse, dergestalt, daß
sie meynen, wann sie gleich ein oder etlichemal brav ablieffen; so müste es doch
zum andern, dritten und letztenmal desto besser gehen, indem es doch heisse:
Frisch gewagt, sey halb gewonnen; es wäre und bleibe eine ausgemachte
Regel daß kein Meister vom Himmel gefallen, und müsse es zu letzt biegen oder
brechen. Solches kan man gar deutlich an denenjenigen sehen, welche vor der
Zeit disputiren, predigen, promoviren und advociren wollen, ehe ihnen noch,
zu einem solchen wichtigen Werck, die Flügel recht gewachsen sind, gleich dem
erdichteten Icaro, welcher nicht wuste, daß er wächserne Flügel hatte, so von
der grossen Hitze der. Sonnen nothwendig schmeltzen, er aber hernach, aus
allzugrosser Unbedachtsamkeit ins Meer fallen, und allda nothwendig ersauf-
fen muste. Indessen ist es kein Wunder, wann aus solchen vorgefasten Mey-
nungen und imaginativischen Gelehrsamkeit, Spaltungen in der Philosophie,
grausame Ketzereyen in der Theologie, und unendliche Opiniones communes
und dissensus in Jure entstehen, weil sich die Verehrer derselben, und solche
Simulacra Eruditionis, nicht auf die Wahrheit der Sache, sondern entweder
auf eine allzugrosse Verwegenheit, oder desperates Federfechten und vergebli-
che Raissonnir-Kunst stützen, dabey aber ihre eingesogene Praejudicia noch weit
höher als derer alten Römer Kostbarkeiten, und des Geldsüchtigen Titi Ve-
spasiani
Reichthum aestimiren.

Wie des Menschen natürliche Constitution beschaffen ist, so ist er auch
von Natur zu Irrthümern geneigt, weil die äusserlichen Verrichtungen als
Effectus Temperamentorum, wohin auch die Irrthümer gehören, sich nach des
Menschen seiner angebohrnen Constitution richten müssen. Aus diesem Principio
demonstrato
folget weiter, daß ein Sanguineus, von Natur, theils zum Vorur-
theil der Ubereilung und Leichtgläubigkeit geneigt seyn müsse. Darum über-
eilet sich ein Sanguineus gar leicht in seinem Raisonniren, weil er wegen der ge-
schwinden Bewegung seines Geblütes einen Uberfluß von tausenderley Ideen
in seinem Kopffe heget, und daher die deutlichen Ideen von denen duncklen
nicht accurat absondert, und zuletzt in einen Defectum Judicii dolendum ver-
fällt. Man siehet dieses unter andern an denen in der ersten Hitze und grösten
Ubereilung geschlossenen Ehen, da z. E. eine junge und feine Dirne von 15.
Jahren einen alten Krippen-Stösser, und krumm-gebückten Kräuter-Sucher,
wie die böse Welt so verächtlich von alten Leuten zu reden pfleget, von 60. und

mehr

tum Miſeriæ nicht recht genau unterſuchet haben, ſo werden ſie insgemein toll-
kuͤhn und kriegen uͤberhaupt mehr als eine allzufreye Hardieſſe, dergeſtalt, daß
ſie meynen, wann ſie gleich ein oder etlichemal brav ablieffen; ſo muͤſte es doch
zum andern, dritten und letztenmal deſto beſſer gehen, indem es doch heiſſe:
Friſch gewagt, ſey halb gewonnen; es waͤre und bleibe eine ausgemachte
Regel daß kein Meiſter vom Himmel gefallen, und muͤſſe es zu letzt biegen oder
brechen. Solches kan man gar deutlich an denenjenigen ſehen, welche vor der
Zeit diſputiren, predigen, promoviren und advociren wollen, ehe ihnen noch,
zu einem ſolchen wichtigen Werck, die Fluͤgel recht gewachſen ſind, gleich dem
erdichteten Icaro, welcher nicht wuſte, daß er waͤchſerne Fluͤgel hatte, ſo von
der groſſen Hitze der. Sonnen nothwendig ſchmeltzen, er aber hernach, aus
allzugroſſer Unbedachtſamkeit ins Meer fallen, und allda nothwendig erſauf-
fen muſte. Indeſſen iſt es kein Wunder, wann aus ſolchen vorgefaſten Mey-
nungen und imaginativiſchen Gelehrſamkeit, Spaltungen in der Philoſophie,
grauſame Ketzereyen in der Theologie, und unendliche Opiniones communes
und diſſenſus in Jure entſtehen, weil ſich die Verehrer derſelben, und ſolche
Simulacra Eruditionis, nicht auf die Wahrheit der Sache, ſondern entweder
auf eine allzugroſſe Verwegenheit, oder deſperates Federfechten und vergebli-
che Raiſſonnir-Kunſt ſtuͤtzen, dabey aber ihre eingeſogene Præjudicia noch weit
hoͤher als derer alten Roͤmer Koſtbarkeiten, und des Geldſuͤchtigen Titi Ve-
ſpaſiani
Reichthum æſtimiren.

Wie des Menſchen natuͤrliche Conſtitution beſchaffen iſt, ſo iſt er auch
von Natur zu Irrthuͤmern geneigt, weil die aͤuſſerlichen Verrichtungen als
Effectus Temperamentorum, wohin auch die Irrthuͤmer gehoͤren, ſich nach des
Menſchen ſeiner angebohrnen Conſtitution richten muͤſſen. Aus dieſem Principio
demonſtrato
folget weiter, daß ein Sanguineus, von Natur, theils zum Vorur-
theil der Ubereilung und Leichtglaͤubigkeit geneigt ſeyn muͤſſe. Darum uͤber-
eilet ſich ein Sanguineus gar leicht in ſeinem Raiſonniren, weil er wegen der ge-
ſchwinden Bewegung ſeines Gebluͤtes einen Uberfluß von tauſenderley Idéen
in ſeinem Kopffe heget, und daher die deutlichen Idéen von denen duncklen
nicht accurat abſondert, und zuletzt in einen Defectum Judicii dolendum ver-
faͤllt. Man ſiehet dieſes unter andern an denen in der erſten Hitze und groͤſten
Ubereilung geſchloſſenen Ehen, da z. E. eine junge und feine Dirne von 15.
Jahren einen alten Krippen-Stoͤſſer, und krumm-gebuͤckten Kraͤuter-Sucher,
wie die boͤſe Welt ſo veraͤchtlich von alten Leuten zu reden pfleget, von 60. und

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[175/0219] tum Miſeriæ nicht recht genau unterſuchet haben, ſo werden ſie insgemein toll- kuͤhn und kriegen uͤberhaupt mehr als eine allzufreye Hardieſſe, dergeſtalt, daß ſie meynen, wann ſie gleich ein oder etlichemal brav ablieffen; ſo muͤſte es doch zum andern, dritten und letztenmal deſto beſſer gehen, indem es doch heiſſe: Friſch gewagt, ſey halb gewonnen; es waͤre und bleibe eine ausgemachte Regel daß kein Meiſter vom Himmel gefallen, und muͤſſe es zu letzt biegen oder brechen. Solches kan man gar deutlich an denenjenigen ſehen, welche vor der Zeit diſputiren, predigen, promoviren und advociren wollen, ehe ihnen noch, zu einem ſolchen wichtigen Werck, die Fluͤgel recht gewachſen ſind, gleich dem erdichteten Icaro, welcher nicht wuſte, daß er waͤchſerne Fluͤgel hatte, ſo von der groſſen Hitze der. Sonnen nothwendig ſchmeltzen, er aber hernach, aus allzugroſſer Unbedachtſamkeit ins Meer fallen, und allda nothwendig erſauf- fen muſte. Indeſſen iſt es kein Wunder, wann aus ſolchen vorgefaſten Mey- nungen und imaginativiſchen Gelehrſamkeit, Spaltungen in der Philoſophie, grauſame Ketzereyen in der Theologie, und unendliche Opiniones communes und diſſenſus in Jure entſtehen, weil ſich die Verehrer derſelben, und ſolche Simulacra Eruditionis, nicht auf die Wahrheit der Sache, ſondern entweder auf eine allzugroſſe Verwegenheit, oder deſperates Federfechten und vergebli- che Raiſſonnir-Kunſt ſtuͤtzen, dabey aber ihre eingeſogene Præjudicia noch weit hoͤher als derer alten Roͤmer Koſtbarkeiten, und des Geldſuͤchtigen Titi Ve- ſpaſiani Reichthum æſtimiren. Wie des Menſchen natuͤrliche Conſtitution beſchaffen iſt, ſo iſt er auch von Natur zu Irrthuͤmern geneigt, weil die aͤuſſerlichen Verrichtungen als Effectus Temperamentorum, wohin auch die Irrthuͤmer gehoͤren, ſich nach des Menſchen ſeiner angebohrnen Conſtitution richten muͤſſen. Aus dieſem Principio demonſtrato folget weiter, daß ein Sanguineus, von Natur, theils zum Vorur- theil der Ubereilung und Leichtglaͤubigkeit geneigt ſeyn muͤſſe. Darum uͤber- eilet ſich ein Sanguineus gar leicht in ſeinem Raiſonniren, weil er wegen der ge- ſchwinden Bewegung ſeines Gebluͤtes einen Uberfluß von tauſenderley Idéen in ſeinem Kopffe heget, und daher die deutlichen Idéen von denen duncklen nicht accurat abſondert, und zuletzt in einen Defectum Judicii dolendum ver- faͤllt. Man ſiehet dieſes unter andern an denen in der erſten Hitze und groͤſten Ubereilung geſchloſſenen Ehen, da z. E. eine junge und feine Dirne von 15. Jahren einen alten Krippen-Stoͤſſer, und krumm-gebuͤckten Kraͤuter-Sucher, wie die boͤſe Welt ſo veraͤchtlich von alten Leuten zu reden pfleget, von 60. und mehr

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Zitationshilfe: Fassmann, David: Der Gelehrte Narr. Freiburg, 1729, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fassmann_narr_1729/219>, abgerufen am 24.11.2024.