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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802

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ein Jahr nach dem andern über seinem Scheitel
dahinschwinden; dem ist jeder neue Morgen, als
neuer Ruf zur Pflichtübung, ein frohes Geschenk
des Ewigen, der begrüßt jeden Abend mit hei-
term Muthe, als wär' es sein letzter. Nein, der
feiert unter Zagen und heimlichen Vorwürfen den
Schluß der Jahre nicht.

Führt die letzte Stunde des Jahres uns die
Trauerbilder verlorner Freuden, und bitterer
Schicksale vor unser matt geweintes Auge; -- o
so wollen wir sie fest und ernst anblicken: aber
sie sollen uns nicht als furchtbare Gespenster ver-
folgen, die eine feindseelige Gottheit aus dem
Orkus rief, uns mit ihren Schrecken niederzu-
schlagen. -- War der Verlust, der uns im Laufe
des scheidenden Jahres traf, nur klein und traf
er nur unser Aeußeres; nun, so fühlen wir gewiß
schon am Schlusse desselben die heilende Hand der
Zeit; so ist das, was im ersten Augenblick des
Schmerzes uns unerträglich schien, in der min-
derlebhaften und verschönernden Erinnerung, uns
zur wehmüthigen Freude geworden; so hat uns
ein guter Gott schon auf mannigfachen Wegen
seinen reichen Ersatz zugeführt; so hat das Gefühl
unserer verstärkten Kraft uns für den ersetzlichen
oder unersetzlichen Verlust getröstet. Wir haben
vielleicht an der Achtung der wenigen Edlen
gewonnen, was wir an der Schätzung der Menge
verloren; an Genügsamkeit, häuslicher Ruhe und
stiller Zufriedenheit doppelt wieder erhalten, was
uns die Laune des Glücks an Bequemlichkeit,

ein Jahr nach dem andern uͤber ſeinem Scheitel
dahinſchwinden; dem iſt jeder neue Morgen, als
neuer Ruf zur Pflichtuͤbung, ein frohes Geſchenk
des Ewigen, der begruͤßt jeden Abend mit hei-
term Muthe, als waͤr’ es ſein letzter. Nein, der
feiert unter Zagen und heimlichen Vorwuͤrfen den
Schluß der Jahre nicht.

Fuͤhrt die letzte Stunde des Jahres uns die
Trauerbilder verlorner Freuden, und bitterer
Schickſale vor unſer matt geweintes Auge; — o
ſo wollen wir ſie feſt und ernſt anblicken: aber
ſie ſollen uns nicht als furchtbare Geſpenſter ver-
folgen, die eine feindſeelige Gottheit aus dem
Orkus rief, uns mit ihren Schrecken niederzu-
ſchlagen. — War der Verluſt, der uns im Laufe
des ſcheidenden Jahres traf, nur klein und traf
er nur unſer Aeußeres; nun, ſo fuͤhlen wir gewiß
ſchon am Schluſſe deſſelben die heilende Hand der
Zeit; ſo iſt das, was im erſten Augenblick des
Schmerzes uns unertraͤglich ſchien, in der min-
derlebhaften und verſchoͤnernden Erinnerung, uns
zur wehmuͤthigen Freude geworden; ſo hat uns
ein guter Gott ſchon auf mannigfachen Wegen
ſeinen reichen Erſatz zugefuͤhrt; ſo hat das Gefuͤhl
unſerer verſtaͤrkten Kraft uns fuͤr den erſetzlichen
oder unerſetzlichen Verluſt getroͤſtet. Wir haben
vielleicht an der Achtung der wenigen Edlen
gewonnen, was wir an der Schaͤtzung der Menge
verloren; an Genuͤgſamkeit, haͤuslicher Ruhe und
ſtiller Zufriedenheit doppelt wieder erhalten, was
uns die Laune des Gluͤcks an Bequemlichkeit,

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[228/0246] ein Jahr nach dem andern uͤber ſeinem Scheitel dahinſchwinden; dem iſt jeder neue Morgen, als neuer Ruf zur Pflichtuͤbung, ein frohes Geſchenk des Ewigen, der begruͤßt jeden Abend mit hei- term Muthe, als waͤr’ es ſein letzter. Nein, der feiert unter Zagen und heimlichen Vorwuͤrfen den Schluß der Jahre nicht. Fuͤhrt die letzte Stunde des Jahres uns die Trauerbilder verlorner Freuden, und bitterer Schickſale vor unſer matt geweintes Auge; — o ſo wollen wir ſie feſt und ernſt anblicken: aber ſie ſollen uns nicht als furchtbare Geſpenſter ver- folgen, die eine feindſeelige Gottheit aus dem Orkus rief, uns mit ihren Schrecken niederzu- ſchlagen. — War der Verluſt, der uns im Laufe des ſcheidenden Jahres traf, nur klein und traf er nur unſer Aeußeres; nun, ſo fuͤhlen wir gewiß ſchon am Schluſſe deſſelben die heilende Hand der Zeit; ſo iſt das, was im erſten Augenblick des Schmerzes uns unertraͤglich ſchien, in der min- derlebhaften und verſchoͤnernden Erinnerung, uns zur wehmuͤthigen Freude geworden; ſo hat uns ein guter Gott ſchon auf mannigfachen Wegen ſeinen reichen Erſatz zugefuͤhrt; ſo hat das Gefuͤhl unſerer verſtaͤrkten Kraft uns fuͤr den erſetzlichen oder unerſetzlichen Verluſt getroͤſtet. Wir haben vielleicht an der Achtung der wenigen Edlen gewonnen, was wir an der Schaͤtzung der Menge verloren; an Genuͤgſamkeit, haͤuslicher Ruhe und ſtiller Zufriedenheit doppelt wieder erhalten, was uns die Laune des Gluͤcks an Bequemlichkeit,

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Zitationshilfe: [Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien01_1802/246>, abgerufen am 21.11.2024.