außer der Verbindung, ihr gekommen seyn würde. Dieß gilt bei dem wachen Men- schen sogar von jedem neuen Verhältnisse, in wel- ches er eintritt.
Ich nehme hier Reife und gemeinmensch- liche Ausbildung für gleichbedeutend, und zwar mit Recht. Einseitige Bildung ist immer Unreife; wenn auch an einer Seite Ueberreife seyn sollte, so ist doch dafür gewiß an andern Seiten herbe, saure Unreife.
Das Hauptkennzeichen der Reife ist: Kraft, durch Anmuth gemildert. -- Alle jene ge- waltsamen Ereiferungen, jene weiten Anläufe und Ausholungen sind die ersten, auch nothwendigen Renkungen und Regungen der sich entwickelnden Kraft; aber sie sind nicht mehr vorhanden, nach- dem die Entwickelung vollendet, und die schöne geistige Form in sich selbst gerundet ist. Oder daß ich es mit den Kunstwörtern der Schule sage: So wie die Reife erfolgt, vermählt holde Poesie sich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht- schaffenheit des Herzens, und die Schönheit tritt in den Bund mit der Weisheit und Stärke.
Dies ist das Bild des reifen, ausgebildeten Mannes, wie ich mir ihn denke:
Sein Kopf ist durchaus klar und von Vor- urtheilen aller Art frei. Er herrscht im Reiche der Begriffe und übersieht das Gebiet der mensch- lichen Wahrheit so weit als möglich. Aber die
außer der Verbindung, ihr gekommen ſeyn wuͤrde. Dieß gilt bei dem wachen Men- ſchen ſogar von jedem neuen Verhaͤltniſſe, in wel- ches er eintritt.
Ich nehme hier Reife und gemeinmenſch- liche Ausbildung fuͤr gleichbedeutend, und zwar mit Recht. Einſeitige Bildung iſt immer Unreife; wenn auch an einer Seite Ueberreife ſeyn ſollte, ſo iſt doch dafuͤr gewiß an andern Seiten herbe, ſaure Unreife.
Das Hauptkennzeichen der Reife iſt: Kraft, durch Anmuth gemildert. — Alle jene ge- waltſamen Ereiferungen, jene weiten Anlaͤufe und Ausholungen ſind die erſten, auch nothwendigen Renkungen und Regungen der ſich entwickelnden Kraft; aber ſie ſind nicht mehr vorhanden, nach- dem die Entwickelung vollendet, und die ſchoͤne geiſtige Form in ſich ſelbſt gerundet iſt. Oder daß ich es mit den Kunſtwoͤrtern der Schule ſage: So wie die Reife erfolgt, vermaͤhlt holde Poeſie ſich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht- ſchaffenheit des Herzens, und die Schoͤnheit tritt in den Bund mit der Weisheit und Staͤrke.
Dies iſt das Bild des reifen, ausgebildeten Mannes, wie ich mir ihn denke:
Sein Kopf iſt durchaus klar und von Vor- urtheilen aller Art frei. Er herrſcht im Reiche der Begriffe und uͤberſieht das Gebiet der menſch- lichen Wahrheit ſo weit als moͤglich. Aber die
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außer der Verbindung, ihr gekommen
ſeyn wuͤrde. Dieß gilt bei dem wachen Men-
ſchen ſogar von jedem neuen Verhaͤltniſſe, in wel-
ches er eintritt.
Ich nehme hier Reife und gemeinmenſch-
liche Ausbildung fuͤr gleichbedeutend, und zwar
mit Recht. Einſeitige Bildung iſt immer Unreife;
wenn auch an einer Seite Ueberreife ſeyn ſollte,
ſo iſt doch dafuͤr gewiß an andern Seiten herbe,
ſaure Unreife.
Das Hauptkennzeichen der Reife iſt: Kraft,
durch Anmuth gemildert. — Alle jene ge-
waltſamen Ereiferungen, jene weiten Anlaͤufe und
Ausholungen ſind die erſten, auch nothwendigen
Renkungen und Regungen der ſich entwickelnden
Kraft; aber ſie ſind nicht mehr vorhanden, nach-
dem die Entwickelung vollendet, und die ſchoͤne
geiſtige Form in ſich ſelbſt gerundet iſt. Oder daß
ich es mit den Kunſtwoͤrtern der Schule ſage:
So wie die Reife erfolgt, vermaͤhlt holde Poeſie
ſich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht-
ſchaffenheit des Herzens, und die Schoͤnheit
tritt in den Bund mit der Weisheit und
Staͤrke.
Dies iſt das Bild des reifen, ausgebildeten
Mannes, wie ich mir ihn denke:
Sein Kopf iſt durchaus klar und von Vor-
urtheilen aller Art frei. Er herrſcht im Reiche
der Begriffe und uͤberſieht das Gebiet der menſch-
lichen Wahrheit ſo weit als moͤglich. Aber die
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/26>, abgerufen am 21.11.2024.
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