Wahrheit ist ihm durchaus nur Eine, nur ein Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht keine Seite derselben einer andern vor. Gei- stesbildung selbst aber ist ihm auch nur ein Theil der ganzen Bildung, und es fällt ihm nicht ein, lediglich durch sie vollendet zu haben; eben so wenig, als es ihm einfallen wird, sie entbehren zu wollen. Er sieht sehr gut, und scheut sich nicht, es zu gestehen, wie sehr andre hierinn hinter ihm zurück sind; aber er ereifert sich darüber nicht, weil er weiß, wie viel auch hierinn vom Glücke abhänge. Er drängt sein Licht, noch weniger den bloßen Schein seines Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit ist, jedem, der da begehrt, soviel zu geben, als er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande zu geben, das ihm das gefälligste ist, läßt er es doch auch gut seyn, wenn niemand seine Leuchte begehrt. Er ist durchaus rechtschaffen, gewissenhaft, streng gegen sich selbst in seinem Innern, ohne äußerlich das geringste Wesen mit seiner Tugend zu machen, und den Anblick der- selben andern, durch Versicherungen über seine Ehrlichkeit, durch stark hervorspringende Aufop- ferungen, durch Affectation eines hohen Ernstes aufzudringen. Seine Tugend ist eben so kunst- los und, ich dürfte sagen, schamhaft, als seine Weisheit; die herrschende Empfindung bei den
Wahrheit iſt ihm durchaus nur Eine, nur ein Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht keine Seite derſelben einer andern vor. Gei- ſtesbildung ſelbſt aber iſt ihm auch nur ein Theil der ganzen Bildung, und es faͤllt ihm nicht ein, lediglich durch ſie vollendet zu haben; eben ſo wenig, als es ihm einfallen wird, ſie entbehren zu wollen. Er ſieht ſehr gut, und ſcheut ſich nicht, es zu geſtehen, wie ſehr andre hierinn hinter ihm zuruͤck ſind; aber er ereifert ſich daruͤber nicht, weil er weiß, wie viel auch hierinn vom Gluͤcke abhaͤnge. Er draͤngt ſein Licht, noch weniger den bloßen Schein ſeines Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit iſt, jedem, der da begehrt, ſoviel zu geben, als er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande zu geben, das ihm das gefaͤlligſte iſt, laͤßt er es doch auch gut ſeyn, wenn niemand ſeine Leuchte begehrt. Er iſt durchaus rechtſchaffen, gewiſſenhaft, ſtreng gegen ſich ſelbſt in ſeinem Innern, ohne aͤußerlich das geringſte Weſen mit ſeiner Tugend zu machen, und den Anblick der- ſelben andern, durch Verſicherungen uͤber ſeine Ehrlichkeit, durch ſtark hervorſpringende Aufop- ferungen, durch Affectation eines hohen Ernſtes aufzudringen. Seine Tugend iſt eben ſo kunſt- los und, ich duͤrfte ſagen, ſchamhaft, als ſeine Weisheit; die herrſchende Empfindung bei den
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Wahrheit iſt ihm durchaus nur Eine, nur ein
Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht
keine Seite derſelben einer andern vor. Gei-
ſtesbildung ſelbſt aber iſt ihm auch nur ein
Theil der ganzen Bildung, und es faͤllt
ihm nicht ein, lediglich durch ſie vollendet zu
haben; eben ſo wenig, als es ihm einfallen wird,
ſie entbehren zu wollen. Er ſieht ſehr gut, und
ſcheut ſich nicht, es zu geſtehen, wie ſehr andre
hierinn hinter ihm zuruͤck ſind; aber er ereifert
ſich daruͤber nicht, weil er weiß, wie viel auch
hierinn vom Gluͤcke abhaͤnge. Er draͤngt ſein
Licht, noch weniger den bloßen Schein ſeines
Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit
iſt, jedem, der da begehrt, ſoviel zu geben, als
er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande
zu geben, das ihm das gefaͤlligſte iſt, laͤßt er
es doch auch gut ſeyn, wenn niemand ſeine
Leuchte begehrt. Er iſt durchaus rechtſchaffen,
gewiſſenhaft, ſtreng gegen ſich ſelbſt in ſeinem
Innern, ohne aͤußerlich das geringſte Weſen mit
ſeiner Tugend zu machen, und den Anblick der-
ſelben andern, durch Verſicherungen uͤber ſeine
Ehrlichkeit, durch ſtark hervorſpringende Aufop-
ferungen, durch Affectation eines hohen Ernſtes
aufzudringen. Seine Tugend iſt eben ſo kunſt-
los und, ich duͤrfte ſagen, ſchamhaft, als ſeine
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/27>, abgerufen am 21.11.2024.
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