Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

die sogenannten sieben Weisen voran, deren Weisheit sich un-
mittelbar nur auf das menschliche Leben bezog.

Das Bewußtsein der Welt ist also für das Ich vermittelt
durch das Bewußtsein des Du. So ist der Mensch der Gott
des Menschen
. Daß er ist, verdankt er der Natur, daß er
Mensch ist, dem Menschen. Wie er nichts physisch vermag
ohne den andern Menschen, so auch nichts geistig. Vier Hände
vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen sehen mehr
als zwei. Und diese vereinte Kraft unterscheidet sich nicht
nur quantitativ, sondern auch qualitativ von der vereinzel-
ten
. Einzeln ist die menschliche Kraft eine beschränkte, ver-
einigt
eine unendliche Kraft. Beschränkt ist das Wissen
des Einzelnen, aber unbeschränkt die Vernunft, unbeschränkt die
Wissenschaft, denn sie ist ein gemeinschaftlicher Act der Mensch-
heit, und zwar nicht nur deßwegen, weil unzählig Viele an
dem Bau der Wissenschaft mit arbeiten, sondern auch in dem
innerlichen Sinne, daß das wissenschaftliche Genie einer be-
stimmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies
in sich vereinigt, wenn auch selbst wieder auf eine bestimmte,
individuelle Weise, seine Kraft also keine vereinzelte Kraft ist.
Witz, Scharfsinn, Phantasie, Gefühl, als unterschieden von
der Empfindung, Vernunft als subjectives Vermögen, alle diese
sogenannten Seelenkräfte sind Kräfte der Menschheit, nicht
des Menschen als eines Einzelwesens, sind Culturproducte,
Producte der menschlichen Gesellschaft. Nur wo sich der Mensch
am Menschen stößt und reibt, entzündet sich Witz und Scharf-
sinn -- mehr Witz ist daher in der Stadt als auf dem Lande,
mehr in großen, als kleinen Städten -- nur wo sich der Mensch
am Menschen sonnt und wärmt, entsteht Gefühl und Phan-
tasie -- die Liebe, ein gemeinschaftlicher Act, ohne Erwiederung

die ſogenannten ſieben Weiſen voran, deren Weisheit ſich un-
mittelbar nur auf das menſchliche Leben bezog.

Das Bewußtſein der Welt iſt alſo für das Ich vermittelt
durch das Bewußtſein des Du. So iſt der Menſch der Gott
des Menſchen
. Daß er iſt, verdankt er der Natur, daß er
Menſch iſt, dem Menſchen. Wie er nichts phyſiſch vermag
ohne den andern Menſchen, ſo auch nichts geiſtig. Vier Hände
vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen ſehen mehr
als zwei. Und dieſe vereinte Kraft unterſcheidet ſich nicht
nur quantitativ, ſondern auch qualitativ von der vereinzel-
ten
. Einzeln iſt die menſchliche Kraft eine beſchränkte, ver-
einigt
eine unendliche Kraft. Beſchränkt iſt das Wiſſen
des Einzelnen, aber unbeſchränkt die Vernunft, unbeſchränkt die
Wiſſenſchaft, denn ſie iſt ein gemeinſchaftlicher Act der Menſch-
heit, und zwar nicht nur deßwegen, weil unzählig Viele an
dem Bau der Wiſſenſchaft mit arbeiten, ſondern auch in dem
innerlichen Sinne, daß das wiſſenſchaftliche Genie einer be-
ſtimmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies
in ſich vereinigt, wenn auch ſelbſt wieder auf eine beſtimmte,
individuelle Weiſe, ſeine Kraft alſo keine vereinzelte Kraft iſt.
Witz, Scharfſinn, Phantaſie, Gefühl, als unterſchieden von
der Empfindung, Vernunft als ſubjectives Vermögen, alle dieſe
ſogenannten Seelenkräfte ſind Kräfte der Menſchheit, nicht
des Menſchen als eines Einzelweſens, ſind Culturproducte,
Producte der menſchlichen Geſellſchaft. Nur wo ſich der Menſch
am Menſchen ſtößt und reibt, entzündet ſich Witz und Scharf-
ſinn — mehr Witz iſt daher in der Stadt als auf dem Lande,
mehr in großen, als kleinen Städten — nur wo ſich der Menſch
am Menſchen ſonnt und wärmt, entſteht Gefühl und Phan-
taſie — die Liebe, ein gemeinſchaftlicher Act, ohne Erwiederung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="101"/>
die &#x017F;ogenannten &#x017F;ieben Wei&#x017F;en voran, deren Weisheit &#x017F;ich un-<lb/>
mittelbar nur auf das men&#x017F;chliche Leben bezog.</p><lb/>
          <p>Das Bewußt&#x017F;ein der Welt i&#x017F;t al&#x017F;o für das Ich vermittelt<lb/>
durch das Bewußt&#x017F;ein des Du. So i&#x017F;t der <hi rendition="#g">Men&#x017F;ch der Gott<lb/>
des Men&#x017F;chen</hi>. Daß er <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi>, verdankt er der <hi rendition="#g">Natur</hi>, daß er<lb/><hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi> i&#x017F;t, dem <hi rendition="#g">Men&#x017F;chen</hi>. Wie er nichts phy&#x017F;i&#x017F;ch vermag<lb/>
ohne den andern Men&#x017F;chen, &#x017F;o auch nichts gei&#x017F;tig. Vier Hände<lb/>
vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen &#x017F;ehen mehr<lb/>
als zwei. Und die&#x017F;e <hi rendition="#g">vereinte</hi> Kraft unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich nicht<lb/>
nur quantitativ, &#x017F;ondern auch <hi rendition="#g">qualitativ</hi> von der <hi rendition="#g">vereinzel-<lb/>
ten</hi>. Einzeln i&#x017F;t die men&#x017F;chliche Kraft eine be&#x017F;chränkte, <hi rendition="#g">ver-<lb/>
einigt</hi> eine <hi rendition="#g">unendliche</hi> Kraft. Be&#x017F;chränkt i&#x017F;t das Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des Einzelnen, aber unbe&#x017F;chränkt die Vernunft, unbe&#x017F;chränkt die<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, denn &#x017F;ie i&#x017F;t ein gemein&#x017F;chaftlicher Act der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit, und zwar nicht nur deßwegen, weil unzählig Viele an<lb/>
dem Bau der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft mit arbeiten, &#x017F;ondern auch in dem<lb/>
innerlichen Sinne, daß das wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Genie einer be-<lb/>
&#x017F;timmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies<lb/>
in &#x017F;ich vereinigt, wenn auch &#x017F;elb&#x017F;t wieder auf eine be&#x017F;timmte,<lb/>
individuelle Wei&#x017F;e, &#x017F;eine Kraft al&#x017F;o keine vereinzelte Kraft i&#x017F;t.<lb/>
Witz, Scharf&#x017F;inn, Phanta&#x017F;ie, Gefühl, als unter&#x017F;chieden von<lb/>
der Empfindung, Vernunft als &#x017F;ubjectives Vermögen, alle die&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ogenannten Seelenkräfte &#x017F;ind <hi rendition="#g">Kräfte der Men&#x017F;chheit</hi>, nicht<lb/>
des Men&#x017F;chen als eines Einzelwe&#x017F;ens, &#x017F;ind Culturproducte,<lb/>
Producte der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft. Nur wo &#x017F;ich der Men&#x017F;ch<lb/>
am Men&#x017F;chen <hi rendition="#g">&#x017F;tößt</hi> und <hi rendition="#g">reibt</hi>, entzündet &#x017F;ich Witz und Scharf-<lb/>
&#x017F;inn &#x2014; mehr Witz i&#x017F;t daher in der Stadt als auf dem Lande,<lb/>
mehr in großen, als kleinen Städten &#x2014; nur wo &#x017F;ich der Men&#x017F;ch<lb/>
am Men&#x017F;chen <hi rendition="#g">&#x017F;onnt</hi> und <hi rendition="#g">wärmt</hi>, ent&#x017F;teht Gefühl und Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie &#x2014; die Liebe, ein gemein&#x017F;chaftlicher Act, ohne Erwiederung<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0119] die ſogenannten ſieben Weiſen voran, deren Weisheit ſich un- mittelbar nur auf das menſchliche Leben bezog. Das Bewußtſein der Welt iſt alſo für das Ich vermittelt durch das Bewußtſein des Du. So iſt der Menſch der Gott des Menſchen. Daß er iſt, verdankt er der Natur, daß er Menſch iſt, dem Menſchen. Wie er nichts phyſiſch vermag ohne den andern Menſchen, ſo auch nichts geiſtig. Vier Hände vermögen mehr als zwei; aber auch vier Augen ſehen mehr als zwei. Und dieſe vereinte Kraft unterſcheidet ſich nicht nur quantitativ, ſondern auch qualitativ von der vereinzel- ten. Einzeln iſt die menſchliche Kraft eine beſchränkte, ver- einigt eine unendliche Kraft. Beſchränkt iſt das Wiſſen des Einzelnen, aber unbeſchränkt die Vernunft, unbeſchränkt die Wiſſenſchaft, denn ſie iſt ein gemeinſchaftlicher Act der Menſch- heit, und zwar nicht nur deßwegen, weil unzählig Viele an dem Bau der Wiſſenſchaft mit arbeiten, ſondern auch in dem innerlichen Sinne, daß das wiſſenſchaftliche Genie einer be- ſtimmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies in ſich vereinigt, wenn auch ſelbſt wieder auf eine beſtimmte, individuelle Weiſe, ſeine Kraft alſo keine vereinzelte Kraft iſt. Witz, Scharfſinn, Phantaſie, Gefühl, als unterſchieden von der Empfindung, Vernunft als ſubjectives Vermögen, alle dieſe ſogenannten Seelenkräfte ſind Kräfte der Menſchheit, nicht des Menſchen als eines Einzelweſens, ſind Culturproducte, Producte der menſchlichen Geſellſchaft. Nur wo ſich der Menſch am Menſchen ſtößt und reibt, entzündet ſich Witz und Scharf- ſinn — mehr Witz iſt daher in der Stadt als auf dem Lande, mehr in großen, als kleinen Städten — nur wo ſich der Menſch am Menſchen ſonnt und wärmt, entſteht Gefühl und Phan- taſie — die Liebe, ein gemeinſchaftlicher Act, ohne Erwiederung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/119
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/119>, abgerufen am 04.12.2024.