Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.begeistert, reißt den Menschen unwillkührlich mit sich fort. Die Alten sagten, wenn die Tugend sich sehen lassen *) Interessant ist in dieser Beziehung das Selbstbekenntniß Au-
gustins. Ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum salubritatis: magisque adducor .... cantandi consuetudinem appro- bare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in affectum pietatis assurgat. Tamen cum mihi accidit, ut nos am- plius cantus, quam res quae canitur moveat, poenaliter me pec- care confiteor. Confess. I. X. c. 33. begeiſtert, reißt den Menſchen unwillkührlich mit ſich fort. Die Alten ſagten, wenn die Tugend ſich ſehen laſſen *) Intereſſant iſt in dieſer Beziehung das Selbſtbekenntniß Au-
guſtins. Ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum salubritatis: magisque adducor .... cantandi consuetudinem appro- bare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in affectum pietatis assurgat. Tamen cum mihi accidit, ut nos am- plius cantus, quam res quae canitur moveat, poenaliter me pec- care confiteor. Confess. I. X. c. 33. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0204" n="186"/> begeiſtert, reißt den Menſchen unwillkührlich mit ſich fort.<lb/> Das Geſetz ſpricht nur zum Verſtande und ſetzt ſich direct den<lb/> Trieben entgegen; das Beiſpiel dagegen ſchmiegt ſich an<lb/> einen mächtigen, ſinnlichen Trieb — an den unwillkühr-<lb/> lichen Nachahmungstrieb an. Das Beiſpiel wirkt auf Ge-<lb/> müth und Phantaſie. Kurz, das Beiſpiel hat magiſche, d. h.<lb/> ſinnliche Kräfte; denn die magiſche, d. i. unwillkührliche An-<lb/> ziehungskraft iſt eine weſentliche Eigenſchaft, wie der Materie<lb/> überhaupt, ſo der Sinnlichkeit insbeſondre.</p><lb/> <p>Die Alten ſagten, wenn die Tugend ſich ſehen laſſen<lb/> könnte oder würde, ſo würde ſie durch ihre Schönheit Alle für<lb/> ſich gewinnen und begeiſtern. Die Chriſten waren ſo glück-<lb/> lich, auch dieſen Wunſch erfüllt zu ſehen. Die Heiden hatten<lb/> ein ungeſchriebenes, die Juden ein geſchriebenes Geſetz, die<lb/> Chriſten ein Exempel, ein Vorbild, ein ſichtbares, perſönlich<lb/> lebendiges Geſetz, ein Fleiſch gewordnes, ein menſchliches Ge-<lb/> ſetz. Daher die Freudigkeit namentlich der erſten Chriſten —<lb/> daher der Ruhm des Chriſtenthums, daß nur es allein die<lb/> Kraft habe und gebe, der Sünde zu widerſtehen. Und dieſer<lb/> Ruhm ſoll ihm nicht abgeſtritten werden. Nur iſt zu bemer-<lb/> ken, daß die Kraft des Tugendexempels nicht ſowohl die Macht<lb/> der Tugend, als vielmehr die <hi rendition="#g">Macht des Beiſpiels</hi> über-<lb/> haupt iſt, gleichwie die Macht der religiöſen Muſik nicht die<lb/> Macht der Religion, ſondern die Macht der Muſik iſt<note place="foot" n="*)">Intereſſant iſt in dieſer Beziehung das Selbſtbekenntniß <hi rendition="#g">Au-<lb/> guſtins</hi>. <hi rendition="#aq">Ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum<lb/> salubritatis: magisque adducor .... cantandi consuetudinem appro-<lb/> bare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in<lb/> affectum pietatis assurgat. Tamen cum mihi accidit, ut nos am-<lb/> plius <hi rendition="#g">cantus</hi>, quam <hi rendition="#g">res quae canitur</hi> moveat, poenaliter me pec-<lb/> care confiteor. Confess. I. X. c. 33.</hi></note>,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [186/0204]
begeiſtert, reißt den Menſchen unwillkührlich mit ſich fort.
Das Geſetz ſpricht nur zum Verſtande und ſetzt ſich direct den
Trieben entgegen; das Beiſpiel dagegen ſchmiegt ſich an
einen mächtigen, ſinnlichen Trieb — an den unwillkühr-
lichen Nachahmungstrieb an. Das Beiſpiel wirkt auf Ge-
müth und Phantaſie. Kurz, das Beiſpiel hat magiſche, d. h.
ſinnliche Kräfte; denn die magiſche, d. i. unwillkührliche An-
ziehungskraft iſt eine weſentliche Eigenſchaft, wie der Materie
überhaupt, ſo der Sinnlichkeit insbeſondre.
Die Alten ſagten, wenn die Tugend ſich ſehen laſſen
könnte oder würde, ſo würde ſie durch ihre Schönheit Alle für
ſich gewinnen und begeiſtern. Die Chriſten waren ſo glück-
lich, auch dieſen Wunſch erfüllt zu ſehen. Die Heiden hatten
ein ungeſchriebenes, die Juden ein geſchriebenes Geſetz, die
Chriſten ein Exempel, ein Vorbild, ein ſichtbares, perſönlich
lebendiges Geſetz, ein Fleiſch gewordnes, ein menſchliches Ge-
ſetz. Daher die Freudigkeit namentlich der erſten Chriſten —
daher der Ruhm des Chriſtenthums, daß nur es allein die
Kraft habe und gebe, der Sünde zu widerſtehen. Und dieſer
Ruhm ſoll ihm nicht abgeſtritten werden. Nur iſt zu bemer-
ken, daß die Kraft des Tugendexempels nicht ſowohl die Macht
der Tugend, als vielmehr die Macht des Beiſpiels über-
haupt iſt, gleichwie die Macht der religiöſen Muſik nicht die
Macht der Religion, ſondern die Macht der Muſik iſt *),
*) Intereſſant iſt in dieſer Beziehung das Selbſtbekenntniß Au-
guſtins. Ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum
salubritatis: magisque adducor .... cantandi consuetudinem appro-
bare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in
affectum pietatis assurgat. Tamen cum mihi accidit, ut nos am-
plius cantus, quam res quae canitur moveat, poenaliter me pec-
care confiteor. Confess. I. X. c. 33.
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