Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

nur, daß er dort davon frei ist, wovon er hier frei zu sein
wünscht und sich durch den Willen, die Andacht, die Ca-
steiung frei zu machen sucht. Darum ist dieses Leben für den
Christen ein Leben der Qual und Pein, weil er hier noch mit
seinem Gegensatz behaftet ist, mit den Lüsten des Fleisches,
den Anfechtungen des Teufels zu kämpfen hat.

Der Glaube der cultivirten Völker unterscheidet sich also
nur dadurch von dem Glauben der uncultivirten, wodurch sich
überhaupt die Cultur von der Uncultur unterscheidet -- da-
durch, daß der Glaube der Cultur ein unterscheidender,
aussondernder, abstracter
Glaube ist. Wo unterschieden
wird, da wird geurtheilt; wo aber geurtheilt, da entsteht die
Scheidung zwischen Positivem und Negativem. Der Glaube
der wilden Völker ist ein Glaube ohne Urtheil. Die Bildung
dagegen urtheilt: dem gebildeten Menschen ist nur das gebil-
dete Leben das wahre, dem Christen das christliche. Der rohe
Naturmensch tritt ohne Anstand, so wie er steht und geht, ins
Jenseits ein: das Jenseits ist seine natürliche Blöße. Der
Gebildete dagegen nimmt an einem solchen ungezügelten Le-
ben nach dem Tode Anstand, weil er schon hier das ungezü-
gelte Naturleben beanstandet. Der Glaube an das jenseitige
Leben ist daher nur der Glaube an das dießseitige wahre
Leben: die wesentliche Inhaltsbestimmtheit des Dießseits ist
auch die wesentliche Inhaltsbestimmtheit des Jenseits; der
Glaube an das Jenseits demnach kein Glaube an ein an-
deres unbekanntes
Leben, sondern an die Wahrheit, Un-
endlichkeit, folglich Unaufhörlichkeit des Lebens, das schon
hier
für das authentische Leben gilt.



Feuerbach. 16

nur, daß er dort davon frei iſt, wovon er hier frei zu ſein
wünſcht und ſich durch den Willen, die Andacht, die Ca-
ſteiung frei zu machen ſucht. Darum iſt dieſes Leben für den
Chriſten ein Leben der Qual und Pein, weil er hier noch mit
ſeinem Gegenſatz behaftet iſt, mit den Lüſten des Fleiſches,
den Anfechtungen des Teufels zu kämpfen hat.

Der Glaube der cultivirten Völker unterſcheidet ſich alſo
nur dadurch von dem Glauben der uncultivirten, wodurch ſich
überhaupt die Cultur von der Uncultur unterſcheidet — da-
durch, daß der Glaube der Cultur ein unterſcheidender,
ausſondernder, abſtracter
Glaube iſt. Wo unterſchieden
wird, da wird geurtheilt; wo aber geurtheilt, da entſteht die
Scheidung zwiſchen Poſitivem und Negativem. Der Glaube
der wilden Völker iſt ein Glaube ohne Urtheil. Die Bildung
dagegen urtheilt: dem gebildeten Menſchen iſt nur das gebil-
dete Leben das wahre, dem Chriſten das chriſtliche. Der rohe
Naturmenſch tritt ohne Anſtand, ſo wie er ſteht und geht, ins
Jenſeits ein: das Jenſeits iſt ſeine natürliche Blöße. Der
Gebildete dagegen nimmt an einem ſolchen ungezügelten Le-
ben nach dem Tode Anſtand, weil er ſchon hier das ungezü-
gelte Naturleben beanſtandet. Der Glaube an das jenſeitige
Leben iſt daher nur der Glaube an das dießſeitige wahre
Leben: die weſentliche Inhaltsbeſtimmtheit des Dießſeits iſt
auch die weſentliche Inhaltsbeſtimmtheit des Jenſeits; der
Glaube an das Jenſeits demnach kein Glaube an ein an-
deres unbekanntes
Leben, ſondern an die Wahrheit, Un-
endlichkeit, folglich Unaufhörlichkeit des Lebens, das ſchon
hier
für das authentiſche Leben gilt.



Feuerbach. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0259" n="241"/>
nur, daß er dort davon <hi rendition="#g">frei i&#x017F;t</hi>, wovon er hier frei zu &#x017F;ein<lb/><hi rendition="#g">wün&#x017F;cht</hi> und &#x017F;ich durch den Willen, die Andacht, die Ca-<lb/>
&#x017F;teiung frei zu machen &#x017F;ucht. Darum i&#x017F;t die&#x017F;es Leben für den<lb/>
Chri&#x017F;ten ein Leben der Qual und Pein, weil er hier noch mit<lb/>
&#x017F;einem <hi rendition="#g">Gegen&#x017F;atz</hi> behaftet i&#x017F;t, mit den Lü&#x017F;ten des Flei&#x017F;ches,<lb/>
den Anfechtungen des Teufels zu kämpfen hat.</p><lb/>
          <p>Der Glaube der cultivirten Völker unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich al&#x017F;o<lb/>
nur dadurch von dem Glauben der uncultivirten, wodurch &#x017F;ich<lb/>
überhaupt die Cultur von der Uncultur unter&#x017F;cheidet &#x2014; da-<lb/>
durch, daß der Glaube der Cultur ein <hi rendition="#g">unter&#x017F;cheidender,<lb/>
aus&#x017F;ondernder, ab&#x017F;tracter</hi> Glaube i&#x017F;t. Wo unter&#x017F;chieden<lb/>
wird, da wird geurtheilt; wo aber geurtheilt, da ent&#x017F;teht die<lb/>
Scheidung zwi&#x017F;chen Po&#x017F;itivem und Negativem. Der Glaube<lb/>
der wilden Völker i&#x017F;t ein Glaube ohne Urtheil. Die Bildung<lb/>
dagegen urtheilt: dem gebildeten Men&#x017F;chen i&#x017F;t nur das gebil-<lb/>
dete Leben das wahre, dem Chri&#x017F;ten das chri&#x017F;tliche. Der rohe<lb/>
Naturmen&#x017F;ch tritt ohne An&#x017F;tand, &#x017F;o wie er &#x017F;teht und geht, ins<lb/>
Jen&#x017F;eits ein: das Jen&#x017F;eits i&#x017F;t &#x017F;eine natürliche Blöße. Der<lb/>
Gebildete dagegen nimmt an einem &#x017F;olchen ungezügelten Le-<lb/>
ben nach dem Tode An&#x017F;tand, weil er &#x017F;chon hier das ungezü-<lb/>
gelte Naturleben bean&#x017F;tandet. Der Glaube an das jen&#x017F;eitige<lb/>
Leben i&#x017F;t daher nur der Glaube an das dieß&#x017F;eitige <hi rendition="#g">wahre</hi><lb/>
Leben: die we&#x017F;entliche Inhaltsbe&#x017F;timmtheit des Dieß&#x017F;eits i&#x017F;t<lb/>
auch die we&#x017F;entliche Inhaltsbe&#x017F;timmtheit des Jen&#x017F;eits; der<lb/>
Glaube an das Jen&#x017F;eits demnach kein Glaube an ein <hi rendition="#g">an-<lb/>
deres unbekanntes</hi> Leben, &#x017F;ondern an die Wahrheit, Un-<lb/>
endlichkeit, folglich Unaufhörlichkeit <hi rendition="#g">des</hi> Lebens, das <hi rendition="#g">&#x017F;chon<lb/>
hier</hi> für das <hi rendition="#g">authenti&#x017F;che Leben</hi> gilt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Feuerbach</hi>. 16</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0259] nur, daß er dort davon frei iſt, wovon er hier frei zu ſein wünſcht und ſich durch den Willen, die Andacht, die Ca- ſteiung frei zu machen ſucht. Darum iſt dieſes Leben für den Chriſten ein Leben der Qual und Pein, weil er hier noch mit ſeinem Gegenſatz behaftet iſt, mit den Lüſten des Fleiſches, den Anfechtungen des Teufels zu kämpfen hat. Der Glaube der cultivirten Völker unterſcheidet ſich alſo nur dadurch von dem Glauben der uncultivirten, wodurch ſich überhaupt die Cultur von der Uncultur unterſcheidet — da- durch, daß der Glaube der Cultur ein unterſcheidender, ausſondernder, abſtracter Glaube iſt. Wo unterſchieden wird, da wird geurtheilt; wo aber geurtheilt, da entſteht die Scheidung zwiſchen Poſitivem und Negativem. Der Glaube der wilden Völker iſt ein Glaube ohne Urtheil. Die Bildung dagegen urtheilt: dem gebildeten Menſchen iſt nur das gebil- dete Leben das wahre, dem Chriſten das chriſtliche. Der rohe Naturmenſch tritt ohne Anſtand, ſo wie er ſteht und geht, ins Jenſeits ein: das Jenſeits iſt ſeine natürliche Blöße. Der Gebildete dagegen nimmt an einem ſolchen ungezügelten Le- ben nach dem Tode Anſtand, weil er ſchon hier das ungezü- gelte Naturleben beanſtandet. Der Glaube an das jenſeitige Leben iſt daher nur der Glaube an das dießſeitige wahre Leben: die weſentliche Inhaltsbeſtimmtheit des Dießſeits iſt auch die weſentliche Inhaltsbeſtimmtheit des Jenſeits; der Glaube an das Jenſeits demnach kein Glaube an ein an- deres unbekanntes Leben, ſondern an die Wahrheit, Un- endlichkeit, folglich Unaufhörlichkeit des Lebens, das ſchon hier für das authentiſche Leben gilt. Feuerbach. 16

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/259
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/259>, abgerufen am 05.12.2024.