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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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der Charakter der Göttlichkeit. Ein Buch das nur die Noth-
wendigkeit der Unterscheidung
, die Nothwendigkeit
der Kritik
auferlegt, um das Göttliche vom Menschlichen,
das Ewige vom Zeitlichen zu scheiden, ist kein göttliches, kein
zuverlässiges, kein untrügliches Buch mehr, ist verstoßen in die
Klasse der profanen Bücher; denn jedes profane Buch hat die-
selbe Eigenschaft, daß es neben oder im Menschlichen Göttli-
ches, neben oder im Individuellen Allgemeines und Ewiges
enthält. Ein wahrhaft gutes oder vielmehr göttliches Buch
ist aber nur ein solches, wo nicht Einiges gut, Anderes schlecht,
Einiges ewig, Anderes zeitlich, sondern wo Alles wie aus einem
Gusse, Alles ewig, Alles wahr und gut ist. Was ist aber das
für eine Offenbarung, wo ich erst den Apostel Paulus, dann
den Petrus, dann den Jacobus, dann den Johannes, dann
den Matthäus, dann den Marcus, dann den Lucas anhören
muß, bis ich endlich einmal an eine Stelle komme, wo meine
gottesbedürftige Seele ausrufen kann: eureka; hier spricht
der heilige Geist selbst; hier ist Etwas für mich, Etwas für
alle Zeiten und Menschen. Wie wahr dachte dagegen der
alte Glaube, wenn er die Inspiration selbst bis auf das Wort,
selbst bis auf den Buchstaben ausdehnte! Das Wort ist dem Ge-
danken nicht gleichgültig. Der bestimmte Gedanke kann nur
durch ein bestimmtes Wort gegeben werden. Ein anderes
Wort, ein anderer Buchstabe -- ein anderer Sinn. Aberglaube
ist allerdings solcher Glaube; aber dieser Aberglaube ist nur
der wahre, unverstellte, offne, seiner Consequenzen
sich nicht schämende Glaube
. Wenn Gott die Haare auf
dem Haupte des Menschen zählt, wenn kein Sperling ohne
seinen Willen vom Dache fällt, wie sollte er sein Wort, das
Wort, an dem die ewige Seligkeit des Menschen hängt, dem

der Charakter der Göttlichkeit. Ein Buch das nur die Noth-
wendigkeit der Unterſcheidung
, die Nothwendigkeit
der Kritik
auferlegt, um das Göttliche vom Menſchlichen,
das Ewige vom Zeitlichen zu ſcheiden, iſt kein göttliches, kein
zuverläſſiges, kein untrügliches Buch mehr, iſt verſtoßen in die
Klaſſe der profanen Bücher; denn jedes profane Buch hat die-
ſelbe Eigenſchaft, daß es neben oder im Menſchlichen Göttli-
ches, neben oder im Individuellen Allgemeines und Ewiges
enthält. Ein wahrhaft gutes oder vielmehr göttliches Buch
iſt aber nur ein ſolches, wo nicht Einiges gut, Anderes ſchlecht,
Einiges ewig, Anderes zeitlich, ſondern wo Alles wie aus einem
Guſſe, Alles ewig, Alles wahr und gut iſt. Was iſt aber das
für eine Offenbarung, wo ich erſt den Apoſtel Paulus, dann
den Petrus, dann den Jacobus, dann den Johannes, dann
den Matthäus, dann den Marcus, dann den Lucas anhören
muß, bis ich endlich einmal an eine Stelle komme, wo meine
gottesbedürftige Seele ausrufen kann: εὕϱηκα; hier ſpricht
der heilige Geiſt ſelbſt; hier iſt Etwas für mich, Etwas für
alle Zeiten und Menſchen. Wie wahr dachte dagegen der
alte Glaube, wenn er die Inſpiration ſelbſt bis auf das Wort,
ſelbſt bis auf den Buchſtaben ausdehnte! Das Wort iſt dem Ge-
danken nicht gleichgültig. Der beſtimmte Gedanke kann nur
durch ein beſtimmtes Wort gegeben werden. Ein anderes
Wort, ein anderer Buchſtabe — ein anderer Sinn. Aberglaube
iſt allerdings ſolcher Glaube; aber dieſer Aberglaube iſt nur
der wahre, unverſtellte, offne, ſeiner Conſequenzen
ſich nicht ſchämende Glaube
. Wenn Gott die Haare auf
dem Haupte des Menſchen zählt, wenn kein Sperling ohne
ſeinen Willen vom Dache fällt, wie ſollte er ſein Wort, das
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[287/0305] der Charakter der Göttlichkeit. Ein Buch das nur die Noth- wendigkeit der Unterſcheidung, die Nothwendigkeit der Kritik auferlegt, um das Göttliche vom Menſchlichen, das Ewige vom Zeitlichen zu ſcheiden, iſt kein göttliches, kein zuverläſſiges, kein untrügliches Buch mehr, iſt verſtoßen in die Klaſſe der profanen Bücher; denn jedes profane Buch hat die- ſelbe Eigenſchaft, daß es neben oder im Menſchlichen Göttli- ches, neben oder im Individuellen Allgemeines und Ewiges enthält. Ein wahrhaft gutes oder vielmehr göttliches Buch iſt aber nur ein ſolches, wo nicht Einiges gut, Anderes ſchlecht, Einiges ewig, Anderes zeitlich, ſondern wo Alles wie aus einem Guſſe, Alles ewig, Alles wahr und gut iſt. Was iſt aber das für eine Offenbarung, wo ich erſt den Apoſtel Paulus, dann den Petrus, dann den Jacobus, dann den Johannes, dann den Matthäus, dann den Marcus, dann den Lucas anhören muß, bis ich endlich einmal an eine Stelle komme, wo meine gottesbedürftige Seele ausrufen kann: εὕϱηκα; hier ſpricht der heilige Geiſt ſelbſt; hier iſt Etwas für mich, Etwas für alle Zeiten und Menſchen. Wie wahr dachte dagegen der alte Glaube, wenn er die Inſpiration ſelbſt bis auf das Wort, ſelbſt bis auf den Buchſtaben ausdehnte! Das Wort iſt dem Ge- danken nicht gleichgültig. Der beſtimmte Gedanke kann nur durch ein beſtimmtes Wort gegeben werden. Ein anderes Wort, ein anderer Buchſtabe — ein anderer Sinn. Aberglaube iſt allerdings ſolcher Glaube; aber dieſer Aberglaube iſt nur der wahre, unverſtellte, offne, ſeiner Conſequenzen ſich nicht ſchämende Glaube. Wenn Gott die Haare auf dem Haupte des Menſchen zählt, wenn kein Sperling ohne ſeinen Willen vom Dache fällt, wie ſollte er ſein Wort, das Wort, an dem die ewige Seligkeit des Menſchen hängt, dem

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/305>, abgerufen am 05.12.2024.