phistik ist ein Product des christlichen Glaubens, insbe- sondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba- rung.
Die Wahrheit, die absolute Wahrheit ist objectiv in der Bibel, subjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott selbst spricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh- mend verhalten. Dem Verstande, der Vernunft bleibt hier nur ein formelles, untergeordnetes Geschäft; sie hat eine fal- sche, ihrem Wesen widersprechende Stellung. Der Ver- stand für sich selbst ist hier gleichgültig gegen das Wahre, gleichgültig gegen den Unterschied von Wahr und Falsch; er hat kein Kriterium in sich selbst; was in der Offenbarung steht, ist wahr, wenn es auch direct dem Verstande wider- spricht; er ist dem Zufall der allerschlechtesten Empirie wi- derstandslos preis gegeben: was ich nur immer finde in der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein Verstand, wenn's Noth thut, vertheidigen; der Verstand ist der Canis Domini; er muß sich alles Mögliche ohne Un- terschied -- die Unterscheidung wäre Zweifel, wäre Fre- vel -- aufbürden lassen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr- heitsloses, sophistisches Denken, ein ränkevolles, in- triguantes Denken -- ein Denken, das nur auf die grund- losesten Distinctionen und Ausflüchte, die schmählichsten Pfiffe und Kniffe sinnt. Je mehr aber schon der Zeit nach der Mensch sich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verstand zur Selbstständigkeit heranreift, desto greller tritt auch noth- wendig der Widerspruch zwischen dem Verstande und Offenba- rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im bewußten Widerspruch mit sich selbst, mit der Wahrheit,
Feuerbach. 19
phiſtik iſt ein Product des chriſtlichen Glaubens, insbe- ſondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba- rung.
Die Wahrheit, die abſolute Wahrheit iſt objectiv in der Bibel, ſubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott ſelbſt ſpricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh- mend verhalten. Dem Verſtande, der Vernunft bleibt hier nur ein formelles, untergeordnetes Geſchäft; ſie hat eine fal- ſche, ihrem Weſen widerſprechende Stellung. Der Ver- ſtand für ſich ſelbſt iſt hier gleichgültig gegen das Wahre, gleichgültig gegen den Unterſchied von Wahr und Falſch; er hat kein Kriterium in ſich ſelbſt; was in der Offenbarung ſteht, iſt wahr, wenn es auch direct dem Verſtande wider- ſpricht; er iſt dem Zufall der allerſchlechteſten Empirie wi- derſtandslos preis gegeben: was ich nur immer finde in der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein Verſtand, wenn’s Noth thut, vertheidigen; der Verſtand iſt der Canis Domini; er muß ſich alles Mögliche ohne Un- terſchied — die Unterſcheidung wäre Zweifel, wäre Fre- vel — aufbürden laſſen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr- heitsloſes, ſophiſtiſches Denken, ein ränkevolles, in- triguantes Denken — ein Denken, das nur auf die grund- loſeſten Diſtinctionen und Ausflüchte, die ſchmählichſten Pfiffe und Kniffe ſinnt. Je mehr aber ſchon der Zeit nach der Menſch ſich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verſtand zur Selbſtſtändigkeit heranreift, deſto greller tritt auch noth- wendig der Widerſpruch zwiſchen dem Verſtande und Offenba- rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im bewußten Widerſpruch mit ſich ſelbſt, mit der Wahrheit,
Feuerbach. 19
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><hirendition="#g"><pbfacs="#f0307"n="289"/>
phiſtik</hi> iſt ein <hirendition="#g">Product</hi> des <hirendition="#g">chriſtlichen Glaubens</hi>, insbe-<lb/>ſondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba-<lb/>
rung.</p><lb/><p>Die Wahrheit, die abſolute Wahrheit iſt objectiv in der<lb/>
Bibel, ſubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott<lb/>ſelbſt ſpricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh-<lb/>
mend verhalten. Dem Verſtande, der Vernunft bleibt hier<lb/>
nur ein formelles, untergeordnetes Geſchäft; ſie hat eine <hirendition="#g">fal-<lb/>ſche</hi>, ihrem Weſen <hirendition="#g">widerſprechende</hi> Stellung. Der Ver-<lb/>ſtand <hirendition="#g">für ſich ſelbſt</hi> iſt hier gleichgültig gegen das Wahre,<lb/>
gleichgültig gegen den Unterſchied von Wahr und Falſch; er<lb/>
hat kein Kriterium <hirendition="#g">in ſich ſelbſt</hi>; was in der Offenbarung<lb/>ſteht, iſt <hirendition="#g">wahr</hi>, wenn es auch direct <hirendition="#g">dem Verſtande wider-<lb/>ſpricht</hi>; er iſt dem <hirendition="#g">Zufall</hi> der allerſchlechteſten Empirie <hirendition="#g">wi-<lb/>
derſtandslos</hi> preis gegeben: was ich nur immer <hirendition="#g">finde</hi> in<lb/>
der göttlichen Offenbarung, muß ich <hirendition="#g">glauben</hi> und mein<lb/>
Verſtand, wenn’s Noth thut, <hirendition="#g">vertheidigen</hi>; der Verſtand iſt<lb/>
der <hirendition="#aq">Canis Domini</hi>; er muß ſich alles <hirendition="#g">Mögliche ohne Un-<lb/>
terſchied</hi>— die Unterſcheidung wäre <hirendition="#g">Zweifel</hi>, wäre <hirendition="#g">Fre-<lb/>
vel</hi>— aufbürden laſſen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich<lb/>
nichts übrig als ein <hirendition="#g">zufälliges</hi>, indifferentes, d. i. <hirendition="#g">wahr-<lb/>
heitsloſes, ſophiſtiſches</hi> Denken, ein <hirendition="#g">ränkevolles, in-<lb/>
triguantes</hi> Denken — ein Denken, das nur auf die grund-<lb/>
loſeſten Diſtinctionen und Ausflüchte, die ſchmählichſten Pfiffe<lb/>
und Kniffe ſinnt. Je mehr aber ſchon der Zeit nach der<lb/>
Menſch ſich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verſtand<lb/>
zur Selbſtſtändigkeit heranreift, deſto greller tritt auch noth-<lb/>
wendig der Widerſpruch zwiſchen dem Verſtande und Offenba-<lb/>
rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im<lb/><hirendition="#g">bewußten</hi> Widerſpruch <hirendition="#g">mit ſich ſelbſt, mit der Wahrheit</hi>,<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Feuerbach</hi>. 19</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[289/0307]
phiſtik iſt ein Product des chriſtlichen Glaubens, insbe-
ſondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba-
rung.
Die Wahrheit, die abſolute Wahrheit iſt objectiv in der
Bibel, ſubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott
ſelbſt ſpricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh-
mend verhalten. Dem Verſtande, der Vernunft bleibt hier
nur ein formelles, untergeordnetes Geſchäft; ſie hat eine fal-
ſche, ihrem Weſen widerſprechende Stellung. Der Ver-
ſtand für ſich ſelbſt iſt hier gleichgültig gegen das Wahre,
gleichgültig gegen den Unterſchied von Wahr und Falſch; er
hat kein Kriterium in ſich ſelbſt; was in der Offenbarung
ſteht, iſt wahr, wenn es auch direct dem Verſtande wider-
ſpricht; er iſt dem Zufall der allerſchlechteſten Empirie wi-
derſtandslos preis gegeben: was ich nur immer finde in
der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein
Verſtand, wenn’s Noth thut, vertheidigen; der Verſtand iſt
der Canis Domini; er muß ſich alles Mögliche ohne Un-
terſchied — die Unterſcheidung wäre Zweifel, wäre Fre-
vel — aufbürden laſſen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich
nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr-
heitsloſes, ſophiſtiſches Denken, ein ränkevolles, in-
triguantes Denken — ein Denken, das nur auf die grund-
loſeſten Diſtinctionen und Ausflüchte, die ſchmählichſten Pfiffe
und Kniffe ſinnt. Je mehr aber ſchon der Zeit nach der
Menſch ſich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verſtand
zur Selbſtſtändigkeit heranreift, deſto greller tritt auch noth-
wendig der Widerſpruch zwiſchen dem Verſtande und Offenba-
rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im
bewußten Widerſpruch mit ſich ſelbſt, mit der Wahrheit,
Feuerbach. 19
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/307>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.