Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

phistik ist ein Product des christlichen Glaubens, insbe-
sondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba-
rung.

Die Wahrheit, die absolute Wahrheit ist objectiv in der
Bibel, subjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott
selbst spricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh-
mend verhalten. Dem Verstande, der Vernunft bleibt hier
nur ein formelles, untergeordnetes Geschäft; sie hat eine fal-
sche
, ihrem Wesen widersprechende Stellung. Der Ver-
stand für sich selbst ist hier gleichgültig gegen das Wahre,
gleichgültig gegen den Unterschied von Wahr und Falsch; er
hat kein Kriterium in sich selbst; was in der Offenbarung
steht, ist wahr, wenn es auch direct dem Verstande wider-
spricht
; er ist dem Zufall der allerschlechtesten Empirie wi-
derstandslos
preis gegeben: was ich nur immer finde in
der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein
Verstand, wenn's Noth thut, vertheidigen; der Verstand ist
der Canis Domini; er muß sich alles Mögliche ohne Un-
terschied
-- die Unterscheidung wäre Zweifel, wäre Fre-
vel
-- aufbürden lassen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich
nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr-
heitsloses, sophistisches
Denken, ein ränkevolles, in-
triguantes
Denken -- ein Denken, das nur auf die grund-
losesten Distinctionen und Ausflüchte, die schmählichsten Pfiffe
und Kniffe sinnt. Je mehr aber schon der Zeit nach der
Mensch sich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verstand
zur Selbstständigkeit heranreift, desto greller tritt auch noth-
wendig der Widerspruch zwischen dem Verstande und Offenba-
rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im
bewußten Widerspruch mit sich selbst, mit der Wahrheit,

Feuerbach. 19

phiſtik iſt ein Product des chriſtlichen Glaubens, insbe-
ſondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba-
rung.

Die Wahrheit, die abſolute Wahrheit iſt objectiv in der
Bibel, ſubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott
ſelbſt ſpricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh-
mend verhalten. Dem Verſtande, der Vernunft bleibt hier
nur ein formelles, untergeordnetes Geſchäft; ſie hat eine fal-
ſche
, ihrem Weſen widerſprechende Stellung. Der Ver-
ſtand für ſich ſelbſt iſt hier gleichgültig gegen das Wahre,
gleichgültig gegen den Unterſchied von Wahr und Falſch; er
hat kein Kriterium in ſich ſelbſt; was in der Offenbarung
ſteht, iſt wahr, wenn es auch direct dem Verſtande wider-
ſpricht
; er iſt dem Zufall der allerſchlechteſten Empirie wi-
derſtandslos
preis gegeben: was ich nur immer finde in
der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein
Verſtand, wenn’s Noth thut, vertheidigen; der Verſtand iſt
der Canis Domini; er muß ſich alles Mögliche ohne Un-
terſchied
— die Unterſcheidung wäre Zweifel, wäre Fre-
vel
— aufbürden laſſen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich
nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr-
heitsloſes, ſophiſtiſches
Denken, ein ränkevolles, in-
triguantes
Denken — ein Denken, das nur auf die grund-
loſeſten Diſtinctionen und Ausflüchte, die ſchmählichſten Pfiffe
und Kniffe ſinnt. Je mehr aber ſchon der Zeit nach der
Menſch ſich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verſtand
zur Selbſtſtändigkeit heranreift, deſto greller tritt auch noth-
wendig der Widerſpruch zwiſchen dem Verſtande und Offenba-
rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im
bewußten Widerſpruch mit ſich ſelbſt, mit der Wahrheit,

Feuerbach. 19
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0307" n="289"/>
phi&#x017F;tik</hi> i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">Product</hi> des <hi rendition="#g">chri&#x017F;tlichen Glaubens</hi>, insbe-<lb/>
&#x017F;ondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba-<lb/>
rung.</p><lb/>
          <p>Die Wahrheit, die ab&#x017F;olute Wahrheit i&#x017F;t objectiv in der<lb/>
Bibel, &#x017F;ubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;pricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh-<lb/>
mend verhalten. Dem Ver&#x017F;tande, der Vernunft bleibt hier<lb/>
nur ein formelles, untergeordnetes Ge&#x017F;chäft; &#x017F;ie hat eine <hi rendition="#g">fal-<lb/>
&#x017F;che</hi>, ihrem We&#x017F;en <hi rendition="#g">wider&#x017F;prechende</hi> Stellung. Der Ver-<lb/>
&#x017F;tand <hi rendition="#g">für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi> i&#x017F;t hier gleichgültig gegen das Wahre,<lb/>
gleichgültig gegen den Unter&#x017F;chied von Wahr und Fal&#x017F;ch; er<lb/>
hat kein Kriterium <hi rendition="#g">in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi>; was in der Offenbarung<lb/>
&#x017F;teht, i&#x017F;t <hi rendition="#g">wahr</hi>, wenn es auch direct <hi rendition="#g">dem Ver&#x017F;tande wider-<lb/>
&#x017F;pricht</hi>; er i&#x017F;t dem <hi rendition="#g">Zufall</hi> der aller&#x017F;chlechte&#x017F;ten Empirie <hi rendition="#g">wi-<lb/>
der&#x017F;tandslos</hi> preis gegeben: was ich nur immer <hi rendition="#g">finde</hi> in<lb/>
der göttlichen Offenbarung, muß ich <hi rendition="#g">glauben</hi> und mein<lb/>
Ver&#x017F;tand, wenn&#x2019;s Noth thut, <hi rendition="#g">vertheidigen</hi>; der Ver&#x017F;tand i&#x017F;t<lb/>
der <hi rendition="#aq">Canis Domini</hi>; er muß &#x017F;ich alles <hi rendition="#g">Mögliche ohne Un-<lb/>
ter&#x017F;chied</hi> &#x2014; die Unter&#x017F;cheidung wäre <hi rendition="#g">Zweifel</hi>, wäre <hi rendition="#g">Fre-<lb/>
vel</hi> &#x2014; aufbürden la&#x017F;&#x017F;en als Wahrheit; es bleibt ihm folglich<lb/>
nichts übrig als ein <hi rendition="#g">zufälliges</hi>, indifferentes, d. i. <hi rendition="#g">wahr-<lb/>
heitslo&#x017F;es, &#x017F;ophi&#x017F;ti&#x017F;ches</hi> Denken, ein <hi rendition="#g">ränkevolles, in-<lb/>
triguantes</hi> Denken &#x2014; ein Denken, das nur auf die grund-<lb/>
lo&#x017F;e&#x017F;ten Di&#x017F;tinctionen und Ausflüchte, die &#x017F;chmählich&#x017F;ten Pfiffe<lb/>
und Kniffe &#x017F;innt. Je mehr aber &#x017F;chon der Zeit nach der<lb/>
Men&#x017F;ch &#x017F;ich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Ver&#x017F;tand<lb/>
zur Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit heranreift, de&#x017F;to greller tritt auch noth-<lb/>
wendig der Wider&#x017F;pruch zwi&#x017F;chen dem Ver&#x017F;tande und Offenba-<lb/>
rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im<lb/><hi rendition="#g">bewußten</hi> Wider&#x017F;pruch <hi rendition="#g">mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, mit der Wahrheit</hi>,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Feuerbach</hi>. 19</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289/0307] phiſtik iſt ein Product des chriſtlichen Glaubens, insbe- ſondre des Glaubens an die Bibel als die göttliche Offenba- rung. Die Wahrheit, die abſolute Wahrheit iſt objectiv in der Bibel, ſubjectiv im Glauben gegeben, denn zu dem, was Gott ſelbſt ſpricht, kann ich mich nur gläubig, hingebend, anneh- mend verhalten. Dem Verſtande, der Vernunft bleibt hier nur ein formelles, untergeordnetes Geſchäft; ſie hat eine fal- ſche, ihrem Weſen widerſprechende Stellung. Der Ver- ſtand für ſich ſelbſt iſt hier gleichgültig gegen das Wahre, gleichgültig gegen den Unterſchied von Wahr und Falſch; er hat kein Kriterium in ſich ſelbſt; was in der Offenbarung ſteht, iſt wahr, wenn es auch direct dem Verſtande wider- ſpricht; er iſt dem Zufall der allerſchlechteſten Empirie wi- derſtandslos preis gegeben: was ich nur immer finde in der göttlichen Offenbarung, muß ich glauben und mein Verſtand, wenn’s Noth thut, vertheidigen; der Verſtand iſt der Canis Domini; er muß ſich alles Mögliche ohne Un- terſchied — die Unterſcheidung wäre Zweifel, wäre Fre- vel — aufbürden laſſen als Wahrheit; es bleibt ihm folglich nichts übrig als ein zufälliges, indifferentes, d. i. wahr- heitsloſes, ſophiſtiſches Denken, ein ränkevolles, in- triguantes Denken — ein Denken, das nur auf die grund- loſeſten Diſtinctionen und Ausflüchte, die ſchmählichſten Pfiffe und Kniffe ſinnt. Je mehr aber ſchon der Zeit nach der Menſch ſich der Offenbarung entfremdet, je mehr der Verſtand zur Selbſtſtändigkeit heranreift, deſto greller tritt auch noth- wendig der Widerſpruch zwiſchen dem Verſtande und Offenba- rungsglauben hervor. Der Gläubige kann dann nur noch im bewußten Widerſpruch mit ſich ſelbſt, mit der Wahrheit, Feuerbach. 19

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/307
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/307>, abgerufen am 05.12.2024.