kenne, verstehe, sehe, nichts betrachte als sich selbst. ... Aber was geht uns ein solcher Gott oder Herr an? was vor Nutzen haben wir davon? Luther (in Walchs Phi- los. Lexikon. Art. Vorsehung.). Die Vorsehung ist daher der un- widersprechlichste, augenfälligste Beweis, daß es sich in der Reli- gion, im Wesen Gottes selbst um gar nichts andres handelt, als um den Menschen, daß das Geheimniß der Theologie die Anthropologie, der Inhalt, der Gehalt des unendlichen Wesens das "endliche" Wesen ist. Gott sieht den Men- schen, heißt: der Mensch sieht sich nur selbst in Gott; Gott sorgt für den Menschen, heißt: die Sorge des Menschen für sich selbst ist sein höchstes Wesen. Die Realität Gottes wird abhängig gemacht von der Thätigkeit Gottes. Ein nicht activer Gott ist kein realer, wirklicher Gott. Aber keine Acti- vität ohne Gegenstand. Erst der Gegenstand macht die Thä- tigkeit aus einem bloßen Vermögen zu wirklicher Thätigkeit. Dieser Gegenstand ist der Mensch. Wäre nicht der Mensch, so hätte Gott keine Ursache zur Thätigkeit. Also ist der Mensch das Bewegungsprincip, die Seele Gottes. Ein Gott, der nicht den Menschen sieht und hört, nicht den Menschen in sich hat, ist ein blinder und tauber, d. h. müßiger, leerer, inhaltsloser Gott. Also ist die Fülle des göttlichen Wesens die Fülle des menschlichen -- also die Gottheit Gottes die Menschheit. Ich für mich -- das ist das trostlose Geheimniß des Epiku- reismus, des Stoicismus, des Pantheismus; Gott für mich -- dieß ist das trostreiche Geheimniß der Religion, des Christianismus. Ist der Mensch um Gottes, oder Gott um des Menschen willen? Allerdings ist der Mensch in der Religion um Gottes willen, aber nur weil Gott um des Menschen wil- len ist. Ich für Gott, weil Gott für mich.
Die Vorsehung ist identisch mit der Wunder- macht, die supernaturalistische Freiheit von der Na- tur, die Herrschaft der Willkühr über das Gesetz. Li- berrime Deus imperat naturae -- Naturam saluti hominum attemperat propter Ecclesiam.... Omnino tri-
kenne, verſtehe, ſehe, nichts betrachte als ſich ſelbſt. … Aber was geht uns ein ſolcher Gott oder Herr an? was vor Nutzen haben wir davon? Luther (in Walchs Phi- loſ. Lexikon. Art. Vorſehung.). Die Vorſehung iſt daher der un- widerſprechlichſte, augenfälligſte Beweis, daß es ſich in der Reli- gion, im Weſen Gottes ſelbſt um gar nichts andres handelt, als um den Menſchen, daß das Geheimniß der Theologie die Anthropologie, der Inhalt, der Gehalt des unendlichen Weſens das „endliche“ Weſen iſt. Gott ſieht den Men- ſchen, heißt: der Menſch ſieht ſich nur ſelbſt in Gott; Gott ſorgt für den Menſchen, heißt: die Sorge des Menſchen für ſich ſelbſt iſt ſein höchſtes Weſen. Die Realität Gottes wird abhängig gemacht von der Thätigkeit Gottes. Ein nicht activer Gott iſt kein realer, wirklicher Gott. Aber keine Acti- vität ohne Gegenſtand. Erſt der Gegenſtand macht die Thä- tigkeit aus einem bloßen Vermögen zu wirklicher Thätigkeit. Dieſer Gegenſtand iſt der Menſch. Wäre nicht der Menſch, ſo hätte Gott keine Urſache zur Thätigkeit. Alſo iſt der Menſch das Bewegungsprincip, die Seele Gottes. Ein Gott, der nicht den Menſchen ſieht und hört, nicht den Menſchen in ſich hat, iſt ein blinder und tauber, d. h. müßiger, leerer, inhaltsloſer Gott. Alſo iſt die Fülle des göttlichen Weſens die Fülle des menſchlichen — alſo die Gottheit Gottes die Menſchheit. Ich für mich — das iſt das troſtloſe Geheimniß des Epiku- reismus, des Stoicismus, des Pantheismus; Gott für mich — dieß iſt das troſtreiche Geheimniß der Religion, des Chriſtianismus. Iſt der Menſch um Gottes, oder Gott um des Menſchen willen? Allerdings iſt der Menſch in der Religion um Gottes willen, aber nur weil Gott um des Menſchen wil- len iſt. Ich für Gott, weil Gott für mich.
Die Vorſehung iſt identiſch mit der Wunder- macht, die ſupernaturaliſtiſche Freiheit von der Na- tur, die Herrſchaft der Willkühr über das Geſetz. Li- berrime Deus imperat naturae — Naturam saluti hominum attemperat propter Ecclesiam.... Omnino tri-
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was geht uns ein ſolcher Gott oder Herr an? was
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loſ. Lexikon. Art. Vorſehung.). Die Vorſehung iſt daher der un-
widerſprechlichſte, augenfälligſte Beweis, daß es ſich in der Reli-
gion, im Weſen Gottes ſelbſt um gar nichts andres handelt,
als um den Menſchen, daß das Geheimniß der Theologie
die Anthropologie, der Inhalt, der Gehalt des unendlichen
Weſens das „endliche“ Weſen iſt. Gott ſieht den Men-
ſchen, heißt: der Menſch ſieht ſich nur ſelbſt in Gott; Gott
ſorgt für den Menſchen, heißt: die Sorge des Menſchen für
ſich ſelbſt iſt ſein höchſtes Weſen. Die Realität Gottes
wird abhängig gemacht von der Thätigkeit Gottes. Ein nicht
activer Gott iſt kein realer, wirklicher Gott. Aber keine Acti-
vität ohne Gegenſtand. Erſt der Gegenſtand macht die Thä-
tigkeit aus einem bloßen Vermögen zu wirklicher Thätigkeit.
Dieſer Gegenſtand iſt der Menſch. Wäre nicht der Menſch,
ſo hätte Gott keine Urſache zur Thätigkeit. Alſo iſt der Menſch
das Bewegungsprincip, die Seele Gottes. Ein Gott, der nicht
den Menſchen ſieht und hört, nicht den Menſchen in ſich hat,
iſt ein blinder und tauber, d. h. müßiger, leerer, inhaltsloſer
Gott. Alſo iſt die Fülle des göttlichen Weſens die Fülle des
menſchlichen — alſo die Gottheit Gottes die Menſchheit.
Ich für mich — das iſt das troſtloſe Geheimniß des Epiku-
reismus, des Stoicismus, des Pantheismus; Gott für
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Chriſtianismus. Iſt der Menſch um Gottes, oder Gott um des
Menſchen willen? Allerdings iſt der Menſch in der Religion
um Gottes willen, aber nur weil Gott um des Menſchen wil-
len iſt. Ich für Gott, weil Gott für mich.
Die Vorſehung iſt identiſch mit der Wunder-
macht, die ſupernaturaliſtiſche Freiheit von der Na-
tur, die Herrſchaft der Willkühr über das Geſetz. Li-
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/423>, abgerufen am 05.12.2024.
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