Die christliche Religion ist ein Widerspruch. Sie ist die Versöhnung und zugleich der Zwiespalt, zu- gleich die Einheit und der Gegensatz von Gott und Mensch. Dieser personificirte Widerspruch ist der Gottmensch -- die Einheit der Gottheit und Mensch- heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit.
Es ist schon oben behauptet worden, daß, wenn Christus zugleich Gott, Mensch und zugleich ein andres Wesen war, welches als ein des Leidens unfähiges Wesen vorgestellt wird, sein Leiden nur eine Illusion war. Denn sein Lei- den für ihn als Menschen war kein Leiden für ihn als Gott. Nein! was er als Mensch bekannte, läugnete er als Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur scheinbar, doketisch, aber nicht wirklich, denn nur der Er- scheinung, dem Ansehn, dem Aeußern nach war er Mensch, in Wahrheit, im Wesen aber, welches eben deßwegen nur den Gläubigen Gegenstand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre es nur gewesen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte. Was nicht in Gott selbst aufgenommen, wird nicht in die Wahrheit, nicht in das Wesen, die Substanz aufgenommen. Unglaublich aber ist es, daß die Christen selbst, theils direct, theils indirect, eingestanden haben, daß ihr höchstes, hei- ligstes Mysterium nur eine Illusion, eine Simulation ist. Eine Simulation, die übrigens schon dem durchaus unhisto- rischen, theatralischen, illusorischen Evangelium Johannis zu Grunde liegt, wie dieß unter Anderm besonders aus der Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch- tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Ostentation seiner Menschlichkeit sogar Thränen vergießet und ausdrücklich sagt: "Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret hast, doch ich weiß, daß Du mich allezeit hörest, sondern um des Volks willen, das umher stehet, sage ich es, daß sie glauben." Diese evangelische Simulation hat nun die christliche Kirche bis zur offenbaren Verstellung ausgebildet. Si credas susce- ptionem corporis, adjungas divinitatis compassionem,
Die chriſtliche Religion iſt ein Widerſpruch. Sie iſt die Verſöhnung und zugleich der Zwieſpalt, zu- gleich die Einheit und der Gegenſatz von Gott und Menſch. Dieſer perſonificirte Widerſpruch iſt der Gottmenſch — die Einheit der Gottheit und Menſch- heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit.
Es iſt ſchon oben behauptet worden, daß, wenn Chriſtus zugleich Gott, Menſch und zugleich ein andres Weſen war, welches als ein des Leidens unfähiges Weſen vorgeſtellt wird, ſein Leiden nur eine Illuſion war. Denn ſein Lei- den für ihn als Menſchen war kein Leiden für ihn als Gott. Nein! was er als Menſch bekannte, läugnete er als Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur ſcheinbar, doketiſch, aber nicht wirklich, denn nur der Er- ſcheinung, dem Anſehn, dem Aeußern nach war er Menſch, in Wahrheit, im Weſen aber, welches eben deßwegen nur den Gläubigen Gegenſtand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre es nur geweſen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte. Was nicht in Gott ſelbſt aufgenommen, wird nicht in die Wahrheit, nicht in das Weſen, die Subſtanz aufgenommen. Unglaublich aber iſt es, daß die Chriſten ſelbſt, theils direct, theils indirect, eingeſtanden haben, daß ihr höchſtes, hei- ligſtes Myſterium nur eine Illuſion, eine Simulation iſt. Eine Simulation, die übrigens ſchon dem durchaus unhiſto- riſchen, theatraliſchen, illuſoriſchen Evangelium Johannis zu Grunde liegt, wie dieß unter Anderm beſonders aus der Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch- tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Oſtentation ſeiner Menſchlichkeit ſogar Thränen vergießet und ausdrücklich ſagt: „Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret haſt, doch ich weiß, daß Du mich allezeit höreſt, ſondern um des Volks willen, das umher ſtehet, ſage ich es, daß ſie glauben.“ Dieſe evangeliſche Simulation hat nun die chriſtliche Kirche bis zur offenbaren Verſtellung ausgebildet. Si credas susce- ptionem corporis, adjungas divinitatis compassionem,
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Die chriſtliche Religion iſt ein Widerſpruch. Sie
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Menſch. Dieſer perſonificirte Widerſpruch iſt der
Gottmenſch — die Einheit der Gottheit und Menſch-
heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit.
Es iſt ſchon oben behauptet worden, daß, wenn Chriſtus
zugleich Gott, Menſch und zugleich ein andres Weſen war,
welches als ein des Leidens unfähiges Weſen vorgeſtellt
wird, ſein Leiden nur eine Illuſion war. Denn ſein Lei-
den für ihn als Menſchen war kein Leiden für ihn als
Gott. Nein! was er als Menſch bekannte, läugnete er als
Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur
ſcheinbar, doketiſch, aber nicht wirklich, denn nur der Er-
ſcheinung, dem Anſehn, dem Aeußern nach war er Menſch, in
Wahrheit, im Weſen aber, welches eben deßwegen nur den
Gläubigen Gegenſtand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre
es nur geweſen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte.
Was nicht in Gott ſelbſt aufgenommen, wird nicht in die
Wahrheit, nicht in das Weſen, die Subſtanz aufgenommen.
Unglaublich aber iſt es, daß die Chriſten ſelbſt, theils direct,
theils indirect, eingeſtanden haben, daß ihr höchſtes, hei-
ligſtes Myſterium nur eine Illuſion, eine Simulation iſt.
Eine Simulation, die übrigens ſchon dem durchaus unhiſto-
riſchen, theatraliſchen, illuſoriſchen Evangelium Johannis zu
Grunde liegt, wie dieß unter Anderm beſonders aus der
Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch-
tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Oſtentation
ſeiner Menſchlichkeit ſogar Thränen vergießet und ausdrücklich
ſagt: „Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret haſt, doch
ich weiß, daß Du mich allezeit höreſt, ſondern um des Volks
willen, das umher ſtehet, ſage ich es, daß ſie glauben.“
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/445>, abgerufen am 05.12.2024.
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