Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Die christliche Religion ist ein Widerspruch. Sie
ist die Versöhnung und zugleich der Zwiespalt, zu-
gleich die Einheit und der Gegensatz von Gott und
Mensch. Dieser personificirte Widerspruch ist der
Gottmensch -- die Einheit der Gottheit und Mensch-
heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit
.

Es ist schon oben behauptet worden, daß, wenn Christus
zugleich Gott, Mensch und zugleich ein andres Wesen war,
welches als ein des Leidens unfähiges Wesen vorgestellt
wird, sein Leiden nur eine Illusion war. Denn sein Lei-
den für ihn als Menschen war kein Leiden für ihn als
Gott
. Nein! was er als Mensch bekannte, läugnete er als
Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur
scheinbar, doketisch, aber nicht wirklich, denn nur der Er-
scheinung, dem Ansehn, dem Aeußern nach war er Mensch, in
Wahrheit, im Wesen aber, welches eben deßwegen nur den
Gläubigen Gegenstand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre
es nur gewesen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte.
Was nicht in Gott selbst aufgenommen, wird nicht in die
Wahrheit, nicht in das Wesen, die Substanz aufgenommen.
Unglaublich aber ist es, daß die Christen selbst, theils direct,
theils indirect, eingestanden haben, daß ihr höchstes, hei-
ligstes Mysterium nur eine Illusion, eine Simulation ist.
Eine Simulation, die übrigens schon dem durchaus unhisto-
rischen, theatralischen, illusorischen Evangelium Johannis zu
Grunde liegt, wie dieß unter Anderm besonders aus der
Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch-
tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Ostentation
seiner Menschlichkeit sogar Thränen vergießet und ausdrücklich
sagt: "Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret hast, doch
ich weiß, daß Du mich allezeit hörest, sondern um des Volks
willen
, das umher stehet, sage ich es, daß sie glauben."
Diese evangelische Simulation hat nun die christliche Kirche
bis zur offenbaren Verstellung ausgebildet. Si credas susce-
ptionem corporis, adjungas divinitatis compassionem,

Die chriſtliche Religion iſt ein Widerſpruch. Sie
iſt die Verſöhnung und zugleich der Zwieſpalt, zu-
gleich die Einheit und der Gegenſatz von Gott und
Menſch. Dieſer perſonificirte Widerſpruch iſt der
Gottmenſch — die Einheit der Gottheit und Menſch-
heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit
.

Es iſt ſchon oben behauptet worden, daß, wenn Chriſtus
zugleich Gott, Menſch und zugleich ein andres Weſen war,
welches als ein des Leidens unfähiges Weſen vorgeſtellt
wird, ſein Leiden nur eine Illuſion war. Denn ſein Lei-
den für ihn als Menſchen war kein Leiden für ihn als
Gott
. Nein! was er als Menſch bekannte, läugnete er als
Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur
ſcheinbar, doketiſch, aber nicht wirklich, denn nur der Er-
ſcheinung, dem Anſehn, dem Aeußern nach war er Menſch, in
Wahrheit, im Weſen aber, welches eben deßwegen nur den
Gläubigen Gegenſtand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre
es nur geweſen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte.
Was nicht in Gott ſelbſt aufgenommen, wird nicht in die
Wahrheit, nicht in das Weſen, die Subſtanz aufgenommen.
Unglaublich aber iſt es, daß die Chriſten ſelbſt, theils direct,
theils indirect, eingeſtanden haben, daß ihr höchſtes, hei-
ligſtes Myſterium nur eine Illuſion, eine Simulation iſt.
Eine Simulation, die übrigens ſchon dem durchaus unhiſto-
riſchen, theatraliſchen, illuſoriſchen Evangelium Johannis zu
Grunde liegt, wie dieß unter Anderm beſonders aus der
Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch-
tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Oſtentation
ſeiner Menſchlichkeit ſogar Thränen vergießet und ausdrücklich
ſagt: „Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret haſt, doch
ich weiß, daß Du mich allezeit höreſt, ſondern um des Volks
willen
, das umher ſtehet, ſage ich es, daß ſie glauben.“
Dieſe evangeliſche Simulation hat nun die chriſtliche Kirche
bis zur offenbaren Verſtellung ausgebildet. Si credas susce-
ptionem corporis, adjungas divinitatis compassionem,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0445" n="427"/>
          <p><hi rendition="#g">Die chri&#x017F;tliche Religion i&#x017F;t ein Wider&#x017F;pruch. Sie<lb/>
i&#x017F;t die Ver&#x017F;öhnung und zugleich der Zwie&#x017F;palt, zu-<lb/>
gleich die Einheit und der Gegen&#x017F;atz von Gott und<lb/>
Men&#x017F;ch. Die&#x017F;er per&#x017F;onificirte Wider&#x017F;pruch i&#x017F;t der<lb/>
Gottmen&#x017F;ch &#x2014; die Einheit der Gottheit und Men&#x017F;ch-<lb/>
heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit</hi>.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t &#x017F;chon oben behauptet worden, daß, wenn Chri&#x017F;tus<lb/>
zugleich Gott, Men&#x017F;ch und zugleich ein andres We&#x017F;en war,<lb/>
welches als ein des Leidens unfähiges We&#x017F;en vorge&#x017F;tellt<lb/>
wird, &#x017F;ein Leiden nur eine Illu&#x017F;ion war. Denn &#x017F;ein Lei-<lb/>
den für ihn <hi rendition="#g">als Men&#x017F;chen</hi> war kein Leiden <hi rendition="#g">für ihn als<lb/>
Gott</hi>. Nein! was er als Men&#x017F;ch bekannte, läugnete er als<lb/>
Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;cheinbar, doketi&#x017F;ch</hi>, aber nicht wirklich, denn nur der Er-<lb/>
&#x017F;cheinung, dem An&#x017F;ehn, dem Aeußern nach war er Men&#x017F;ch, in<lb/>
Wahrheit, im We&#x017F;en aber, welches eben deßwegen nur den<lb/>
Gläubigen Gegen&#x017F;tand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre<lb/>
es nur gewe&#x017F;en, wenn er zugleich <hi rendition="#g">als Gott</hi> gelitten hätte.<lb/>
Was nicht in Gott &#x017F;elb&#x017F;t aufgenommen, wird nicht in die<lb/>
Wahrheit, nicht in das We&#x017F;en, die Sub&#x017F;tanz aufgenommen.<lb/>
Unglaublich aber i&#x017F;t es, daß die Chri&#x017F;ten &#x017F;elb&#x017F;t, theils direct,<lb/>
theils indirect, einge&#x017F;tanden haben, daß ihr höch&#x017F;tes, hei-<lb/>
lig&#x017F;tes My&#x017F;terium nur eine Illu&#x017F;ion, eine Simulation i&#x017F;t.<lb/>
Eine Simulation, die übrigens &#x017F;chon dem durchaus unhi&#x017F;to-<lb/>
ri&#x017F;chen, theatrali&#x017F;chen, illu&#x017F;ori&#x017F;chen Evangelium Johannis zu<lb/>
Grunde liegt, wie dieß <hi rendition="#g">unter Anderm</hi> be&#x017F;onders aus der<lb/>
Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch-<lb/>
tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur O&#x017F;tentation<lb/>
&#x017F;einer Men&#x017F;chlichkeit &#x017F;ogar Thränen vergießet und ausdrücklich<lb/>
&#x017F;agt: &#x201E;Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret ha&#x017F;t, doch<lb/>
ich weiß, daß Du mich allezeit höre&#x017F;t, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">um des Volks<lb/>
willen</hi>, das umher &#x017F;tehet, &#x017F;age ich es, daß &#x017F;ie glauben.&#x201C;<lb/>
Die&#x017F;e evangeli&#x017F;che Simulation hat nun die chri&#x017F;tliche Kirche<lb/>
bis zur offenbaren Ver&#x017F;tellung ausgebildet. <hi rendition="#aq">Si credas susce-<lb/>
ptionem corporis, adjungas <hi rendition="#g">divinitatis compassionem</hi>,<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[427/0445] Die chriſtliche Religion iſt ein Widerſpruch. Sie iſt die Verſöhnung und zugleich der Zwieſpalt, zu- gleich die Einheit und der Gegenſatz von Gott und Menſch. Dieſer perſonificirte Widerſpruch iſt der Gottmenſch — die Einheit der Gottheit und Menſch- heit in ihm Wahrheit und Unwahrheit. Es iſt ſchon oben behauptet worden, daß, wenn Chriſtus zugleich Gott, Menſch und zugleich ein andres Weſen war, welches als ein des Leidens unfähiges Weſen vorgeſtellt wird, ſein Leiden nur eine Illuſion war. Denn ſein Lei- den für ihn als Menſchen war kein Leiden für ihn als Gott. Nein! was er als Menſch bekannte, läugnete er als Gott. Er litt nur äußerlich, nicht innerlich, d. h. er litt nur ſcheinbar, doketiſch, aber nicht wirklich, denn nur der Er- ſcheinung, dem Anſehn, dem Aeußern nach war er Menſch, in Wahrheit, im Weſen aber, welches eben deßwegen nur den Gläubigen Gegenſtand war, Gott. Ein wahres Leiden wäre es nur geweſen, wenn er zugleich als Gott gelitten hätte. Was nicht in Gott ſelbſt aufgenommen, wird nicht in die Wahrheit, nicht in das Weſen, die Subſtanz aufgenommen. Unglaublich aber iſt es, daß die Chriſten ſelbſt, theils direct, theils indirect, eingeſtanden haben, daß ihr höchſtes, hei- ligſtes Myſterium nur eine Illuſion, eine Simulation iſt. Eine Simulation, die übrigens ſchon dem durchaus unhiſto- riſchen, theatraliſchen, illuſoriſchen Evangelium Johannis zu Grunde liegt, wie dieß unter Anderm beſonders aus der Auferweckung des Lazarus hervorgeht, indem hier der allmäch- tige Gebieter über Tod und Leben offenbar nur zur Oſtentation ſeiner Menſchlichkeit ſogar Thränen vergießet und ausdrücklich ſagt: „Vater ich danke Dir, daß Du mich erhöret haſt, doch ich weiß, daß Du mich allezeit höreſt, ſondern um des Volks willen, das umher ſtehet, ſage ich es, daß ſie glauben.“ Dieſe evangeliſche Simulation hat nun die chriſtliche Kirche bis zur offenbaren Verſtellung ausgebildet. Si credas susce- ptionem corporis, adjungas divinitatis compassionem,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/445
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/445>, abgerufen am 05.12.2024.