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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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der moralischen Vollkommenheit ist im Grunde nichts andres
als das Bewußtsein dessen, was ich sein soll. Die morali-
sche Vollkommenheit hängt, wenigstens für das moralische Be-
wußtsein, nicht von der Natur, sondern vom Willen ab; sie
ist eine Willensvollkommenheit, der vollkommne Wille. Den
vollkommnen Willen, den Willen, der eins mit dem Gesetze,
der selbst Gesetz ist, kann ich nicht denken, nicht mir vorstellen,
ohne ihn zugleich als Willensobject, d. h. als Sollen für mich
zu denken. Kurz die Vorstellung des moralisch vollkommnen
Wesens ist keine nur theoretische, friedliche, sondern zugleich
praktische, zur Handlung, zur Nacheiferung auffordernde, mich
in Spannung, Differenz, Zwiespalt mit mir selbst versetzende
Vorstellung; denn indem sie mir zuruft: was ich sein soll, sagt
sie mir zugleich ohne alle Schmeichelei ins Gesicht: was ich
nicht bin.

Aber in dieser Zwietracht mit sich selbst kann es der Mensch
nicht aushalten; er empfindet vielmehr das dringende Bedürf-
niß, den unheilvollen Zwiespalt zwischen sich, dem Sünder,
und dem vollkommnen Wesen aufzuheben. Der Gedanke des
schlechthin vollkommnen Wesens läßt den Menschen kalt und
leer, weil er die Lücke zwischen sich und diesem Wesen ge-
wahrt, fühlt; d. h. er widerspricht dem menschlichen Her-
zen
. Der Mensch muß daher nicht nur die Macht des Ge-
setzes, das Wesen des Verstandes, er muß auch die Macht
der Liebe
, das Wesen des Herzens bejahen, vergegen-
ständlichen, wenn er anders in der Religion sich befriedigen,
zur Ruhe kommen will und soll.

Der Verstand urtheilt nur nach der Strenge des Gesetzes;
das Herz accommodirt sich, ist nachsichtig, rücksichtsvoll, billig,
kat anthropon. Dem Gesetze, das nur die moralische Voll-

der moraliſchen Vollkommenheit iſt im Grunde nichts andres
als das Bewußtſein deſſen, was ich ſein ſoll. Die morali-
ſche Vollkommenheit hängt, wenigſtens für das moraliſche Be-
wußtſein, nicht von der Natur, ſondern vom Willen ab; ſie
iſt eine Willensvollkommenheit, der vollkommne Wille. Den
vollkommnen Willen, den Willen, der eins mit dem Geſetze,
der ſelbſt Geſetz iſt, kann ich nicht denken, nicht mir vorſtellen,
ohne ihn zugleich als Willensobject, d. h. als Sollen für mich
zu denken. Kurz die Vorſtellung des moraliſch vollkommnen
Weſens iſt keine nur theoretiſche, friedliche, ſondern zugleich
praktiſche, zur Handlung, zur Nacheiferung auffordernde, mich
in Spannung, Differenz, Zwieſpalt mit mir ſelbſt verſetzende
Vorſtellung; denn indem ſie mir zuruft: was ich ſein ſoll, ſagt
ſie mir zugleich ohne alle Schmeichelei ins Geſicht: was ich
nicht bin.

Aber in dieſer Zwietracht mit ſich ſelbſt kann es der Menſch
nicht aushalten; er empfindet vielmehr das dringende Bedürf-
niß, den unheilvollen Zwieſpalt zwiſchen ſich, dem Sünder,
und dem vollkommnen Weſen aufzuheben. Der Gedanke des
ſchlechthin vollkommnen Weſens läßt den Menſchen kalt und
leer, weil er die Lücke zwiſchen ſich und dieſem Weſen ge-
wahrt, fühlt; d. h. er widerſpricht dem menſchlichen Her-
zen
. Der Menſch muß daher nicht nur die Macht des Ge-
ſetzes, das Weſen des Verſtandes, er muß auch die Macht
der Liebe
, das Weſen des Herzens bejahen, vergegen-
ſtändlichen, wenn er anders in der Religion ſich befriedigen,
zur Ruhe kommen will und ſoll.

Der Verſtand urtheilt nur nach der Strenge des Geſetzes;
das Herz accommodirt ſich, iſt nachſichtig, rückſichtsvoll, billig,
κατ̕ ἄνϑϱωπον. Dem Geſetze, das nur die moraliſche Voll-

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[46/0064] der moraliſchen Vollkommenheit iſt im Grunde nichts andres als das Bewußtſein deſſen, was ich ſein ſoll. Die morali- ſche Vollkommenheit hängt, wenigſtens für das moraliſche Be- wußtſein, nicht von der Natur, ſondern vom Willen ab; ſie iſt eine Willensvollkommenheit, der vollkommne Wille. Den vollkommnen Willen, den Willen, der eins mit dem Geſetze, der ſelbſt Geſetz iſt, kann ich nicht denken, nicht mir vorſtellen, ohne ihn zugleich als Willensobject, d. h. als Sollen für mich zu denken. Kurz die Vorſtellung des moraliſch vollkommnen Weſens iſt keine nur theoretiſche, friedliche, ſondern zugleich praktiſche, zur Handlung, zur Nacheiferung auffordernde, mich in Spannung, Differenz, Zwieſpalt mit mir ſelbſt verſetzende Vorſtellung; denn indem ſie mir zuruft: was ich ſein ſoll, ſagt ſie mir zugleich ohne alle Schmeichelei ins Geſicht: was ich nicht bin. Aber in dieſer Zwietracht mit ſich ſelbſt kann es der Menſch nicht aushalten; er empfindet vielmehr das dringende Bedürf- niß, den unheilvollen Zwieſpalt zwiſchen ſich, dem Sünder, und dem vollkommnen Weſen aufzuheben. Der Gedanke des ſchlechthin vollkommnen Weſens läßt den Menſchen kalt und leer, weil er die Lücke zwiſchen ſich und dieſem Weſen ge- wahrt, fühlt; d. h. er widerſpricht dem menſchlichen Her- zen. Der Menſch muß daher nicht nur die Macht des Ge- ſetzes, das Weſen des Verſtandes, er muß auch die Macht der Liebe, das Weſen des Herzens bejahen, vergegen- ſtändlichen, wenn er anders in der Religion ſich befriedigen, zur Ruhe kommen will und ſoll. Der Verſtand urtheilt nur nach der Strenge des Geſetzes; das Herz accommodirt ſich, iſt nachſichtig, rückſichtsvoll, billig, κατ̕ ἄνϑϱωπον. Dem Geſetze, das nur die moraliſche Voll-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/64>, abgerufen am 28.11.2024.