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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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kommenheit uns vorhält, genügt Keiner, aber darum genügt
auch nicht das Gesetz dem eigentlichen Menschen im Men-
schen, dem Herzen. Das Gesetz verdammt; das Herz erbarmt
sich auch des Sünders. Das Herz gibt mir das Bewußtsein,
daß ich Mensch bin, das Gesetz nur das Bewußtsein, daß ich
nichtig, daß ich Sünder bin *).

Wodurch also erlöst sich der Mensch von der Pein des
Sündenbewußtseins, von der Qual des Nichtigkeitsgefühles?
wodurch stumpft er der Sünde ihren tödtlichen Stachel ab?
Nur dadurch, daß er sich des Herzens, der Liebe als der
höchsten, als der absoluten Macht und Wahrheit be-
wußt wird, daß er das göttliche Wesen nicht nur als Gesetz,
als moralisches Wesen, als Verstandeswesen, sondern vielmehr
als ein liebendes, herzliches, selbst subjectiv mensch-
liches Wesen anschaut
.

Die Liebe ist der Terminus medius, das substanzielle
Band, das Vermittelungsprincip zwischen dem Vollkommnen und
Unvollkommnen, dem sündlichen und sündhaften Wesen, dem
Allgemeinen und Individuellen, dem Gesetz und dem Herzen,
dem Göttlichen und Menschlichen. Die Liebe ist Gott selbst
und außer ihr ist kein Gott. Die Liebe macht den Menschen
zu Gott und Gott zum Menschen. Die Liebe stärket das
Schwache und schwächet das Starke, erniedrigt das Hohe und
erhöhet das Niedrige, idealisirt die Materie und materialisirt
den Geist. Die Liebe ist die wahre Einheit von Mensch und
Gott, Natur und Geist. In der Liebe ist die gemeine Natur
Geist und der vornehme Geist Materie. Lieben heißt vom

*) Omnes peccavimus. ..... Parricidae cum lege coeperunt et
illis facinus poena monstravit. Seneca.

kommenheit uns vorhält, genügt Keiner, aber darum genügt
auch nicht das Geſetz dem eigentlichen Menſchen im Men-
ſchen, dem Herzen. Das Geſetz verdammt; das Herz erbarmt
ſich auch des Sünders. Das Herz gibt mir das Bewußtſein,
daß ich Menſch bin, das Geſetz nur das Bewußtſein, daß ich
nichtig, daß ich Sünder bin *).

Wodurch alſo erlöſt ſich der Menſch von der Pein des
Sündenbewußtſeins, von der Qual des Nichtigkeitsgefühles?
wodurch ſtumpft er der Sünde ihren tödtlichen Stachel ab?
Nur dadurch, daß er ſich des Herzens, der Liebe als der
höchſten, als der abſoluten Macht und Wahrheit be-
wußt wird, daß er das göttliche Weſen nicht nur als Geſetz,
als moraliſches Weſen, als Verſtandesweſen, ſondern vielmehr
als ein liebendes, herzliches, ſelbſt ſubjectiv menſch-
liches Weſen anſchaut
.

Die Liebe iſt der Terminus medius, das ſubſtanzielle
Band, das Vermittelungsprincip zwiſchen dem Vollkommnen und
Unvollkommnen, dem ſündlichen und ſündhaften Weſen, dem
Allgemeinen und Individuellen, dem Geſetz und dem Herzen,
dem Göttlichen und Menſchlichen. Die Liebe iſt Gott ſelbſt
und außer ihr iſt kein Gott. Die Liebe macht den Menſchen
zu Gott und Gott zum Menſchen. Die Liebe ſtärket das
Schwache und ſchwächet das Starke, erniedrigt das Hohe und
erhöhet das Niedrige, idealiſirt die Materie und materialiſirt
den Geiſt. Die Liebe iſt die wahre Einheit von Menſch und
Gott, Natur und Geiſt. In der Liebe iſt die gemeine Natur
Geiſt und der vornehme Geiſt Materie. Lieben heißt vom

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illis facinus poena monstravit. Seneca.
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[47/0065] kommenheit uns vorhält, genügt Keiner, aber darum genügt auch nicht das Geſetz dem eigentlichen Menſchen im Men- ſchen, dem Herzen. Das Geſetz verdammt; das Herz erbarmt ſich auch des Sünders. Das Herz gibt mir das Bewußtſein, daß ich Menſch bin, das Geſetz nur das Bewußtſein, daß ich nichtig, daß ich Sünder bin *). Wodurch alſo erlöſt ſich der Menſch von der Pein des Sündenbewußtſeins, von der Qual des Nichtigkeitsgefühles? wodurch ſtumpft er der Sünde ihren tödtlichen Stachel ab? Nur dadurch, daß er ſich des Herzens, der Liebe als der höchſten, als der abſoluten Macht und Wahrheit be- wußt wird, daß er das göttliche Weſen nicht nur als Geſetz, als moraliſches Weſen, als Verſtandesweſen, ſondern vielmehr als ein liebendes, herzliches, ſelbſt ſubjectiv menſch- liches Weſen anſchaut. Die Liebe iſt der Terminus medius, das ſubſtanzielle Band, das Vermittelungsprincip zwiſchen dem Vollkommnen und Unvollkommnen, dem ſündlichen und ſündhaften Weſen, dem Allgemeinen und Individuellen, dem Geſetz und dem Herzen, dem Göttlichen und Menſchlichen. Die Liebe iſt Gott ſelbſt und außer ihr iſt kein Gott. Die Liebe macht den Menſchen zu Gott und Gott zum Menſchen. Die Liebe ſtärket das Schwache und ſchwächet das Starke, erniedrigt das Hohe und erhöhet das Niedrige, idealiſirt die Materie und materialiſirt den Geiſt. Die Liebe iſt die wahre Einheit von Menſch und Gott, Natur und Geiſt. In der Liebe iſt die gemeine Natur Geiſt und der vornehme Geiſt Materie. Lieben heißt vom *) Omnes peccavimus. ..... Parricidae cum lege coeperunt et illis facinus poena monstravit. Seneca.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/65>, abgerufen am 28.11.2024.