Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht durch die Erziehung, sondern durch sich
selbst gebildet wird, und welche Klasse wie¬
derum zwei Unterarten in sich faßt, die durch
einen unbegreiflichen, der menschlichen Kunst
durchaus unzugänglichen Grund geschieden
werden.

Die zweite Grundart des Bewußtseyns,
welche in der Regel sich nicht von selbst ent¬
wikelt, sondern in der Gesellschaft sorgfältig
gepflegt werden muß, ist die klare Erkennt¬
niß. Würde der Grundtrieb der Menschheit
in diesem Elemente erfaßt, so würde dies eine
zweite, von der erstern ganz verschiedene
Klasse von Menschen geben. Eine solche, die
Grundliebe selbst erfassende Erkenntniß läßt
nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies
wohl kann, kalt, und untheilnehmend, son¬
dern der Gegenstand derselben wird geliebt
über alles, da dieser Gegenstand ja nur die
Deutung und Uebersetzung unserer ursprüng¬
lichen Liebe selbst ist. Andere Erkenntniß er¬
faßt fremdes, und dieses bleibt fremd, und
läßt kalt; diese erfaßt den Erkennenden selbst
und seine Liebe, und diese liebt er. Ohner¬
achtet es nun bei beiden Klassen dieselbe

nicht durch die Erziehung, ſondern durch ſich
ſelbſt gebildet wird, und welche Klaſſe wie¬
derum zwei Unterarten in ſich faßt, die durch
einen unbegreiflichen, der menſchlichen Kunſt
durchaus unzugaͤnglichen Grund geſchieden
werden.

Die zweite Grundart des Bewußtſeyns,
welche in der Regel ſich nicht von ſelbſt ent¬
wikelt, ſondern in der Geſellſchaft ſorgfaͤltig
gepflegt werden muß, iſt die klare Erkennt¬
niß. Wuͤrde der Grundtrieb der Menſchheit
in dieſem Elemente erfaßt, ſo wuͤrde dies eine
zweite, von der erſtern ganz verſchiedene
Klaſſe von Menſchen geben. Eine ſolche, die
Grundliebe ſelbſt erfaſſende Erkenntniß laͤßt
nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies
wohl kann, kalt, und untheilnehmend, ſon¬
dern der Gegenſtand derſelben wird geliebt
uͤber alles, da dieſer Gegenſtand ja nur die
Deutung und Ueberſetzung unſerer urſpruͤng¬
lichen Liebe ſelbſt iſt. Andere Erkenntniß er¬
faßt fremdes, und dieſes bleibt fremd, und
laͤßt kalt; dieſe erfaßt den Erkennenden ſelbſt
und ſeine Liebe, und dieſe liebt er. Ohner¬
achtet es nun bei beiden Klaſſen dieſelbe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0101" n="95"/>
nicht durch die Erziehung, &#x017F;ondern durch &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t gebildet wird, und welche Kla&#x017F;&#x017F;e wie¬<lb/>
derum zwei Unterarten in &#x017F;ich faßt, die durch<lb/>
einen unbegreiflichen, der men&#x017F;chlichen Kun&#x017F;t<lb/>
durchaus unzuga&#x0364;nglichen Grund ge&#x017F;chieden<lb/>
werden.</p><lb/>
        <p>Die zweite Grundart des Bewußt&#x017F;eyns,<lb/>
welche in der Regel &#x017F;ich nicht von &#x017F;elb&#x017F;t ent¬<lb/>
wikelt, &#x017F;ondern in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;orgfa&#x0364;ltig<lb/>
gepflegt werden muß, i&#x017F;t die klare Erkennt¬<lb/>
niß. Wu&#x0364;rde der Grundtrieb der Men&#x017F;chheit<lb/>
in die&#x017F;em Elemente erfaßt, &#x017F;o wu&#x0364;rde dies eine<lb/>
zweite, von der er&#x017F;tern ganz ver&#x017F;chiedene<lb/>
Kla&#x017F;&#x017F;e von Men&#x017F;chen geben. Eine &#x017F;olche, die<lb/>
Grundliebe &#x017F;elb&#x017F;t erfa&#x017F;&#x017F;ende Erkenntniß la&#x0364;ßt<lb/>
nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies<lb/>
wohl kann, kalt, und untheilnehmend, &#x017F;on¬<lb/>
dern der Gegen&#x017F;tand der&#x017F;elben wird geliebt<lb/>
u&#x0364;ber alles, da die&#x017F;er Gegen&#x017F;tand ja nur die<lb/>
Deutung und Ueber&#x017F;etzung un&#x017F;erer ur&#x017F;pru&#x0364;ng¬<lb/>
lichen Liebe &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t. Andere Erkenntniß er¬<lb/>
faßt fremdes, und die&#x017F;es bleibt fremd, und<lb/>
la&#x0364;ßt kalt; die&#x017F;e erfaßt den Erkennenden &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
und &#x017F;eine Liebe, und die&#x017F;e liebt er. Ohner¬<lb/>
achtet es nun bei beiden Kla&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;elbe<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0101] nicht durch die Erziehung, ſondern durch ſich ſelbſt gebildet wird, und welche Klaſſe wie¬ derum zwei Unterarten in ſich faßt, die durch einen unbegreiflichen, der menſchlichen Kunſt durchaus unzugaͤnglichen Grund geſchieden werden. Die zweite Grundart des Bewußtſeyns, welche in der Regel ſich nicht von ſelbſt ent¬ wikelt, ſondern in der Geſellſchaft ſorgfaͤltig gepflegt werden muß, iſt die klare Erkennt¬ niß. Wuͤrde der Grundtrieb der Menſchheit in dieſem Elemente erfaßt, ſo wuͤrde dies eine zweite, von der erſtern ganz verſchiedene Klaſſe von Menſchen geben. Eine ſolche, die Grundliebe ſelbſt erfaſſende Erkenntniß laͤßt nun nicht, wie eine andere Erkenntniß dies wohl kann, kalt, und untheilnehmend, ſon¬ dern der Gegenſtand derſelben wird geliebt uͤber alles, da dieſer Gegenſtand ja nur die Deutung und Ueberſetzung unſerer urſpruͤng¬ lichen Liebe ſelbſt iſt. Andere Erkenntniß er¬ faßt fremdes, und dieſes bleibt fremd, und laͤßt kalt; dieſe erfaßt den Erkennenden ſelbſt und ſeine Liebe, und dieſe liebt er. Ohner¬ achtet es nun bei beiden Klaſſen dieſelbe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/101
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/101>, abgerufen am 21.11.2024.