Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

dieser bescheiden sich begnügte. So eines Be¬
sitzers der lebendigen Sprache Denken nicht
lebendig wird, so kann man einen solchen ohne
Bedenken beschuldigen, daß er gar nicht ge¬
dacht, sondern nur geschwärmt habe. Den
Besitzer einer todten Sprache kann man in
demselben Falle dessen nicht sofort beschuldi¬
gen; gedacht mag er allerdings haben nach
seiner Weise, die in seiner Sprache niederge¬
legten Begriffe sorgfältig entwikelt; er hat nur
das nicht gethan, was, falls es ihm gelänge,
einem Wunder gleich zu achten wäre.

Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke
einer todten Sprache im Anfange, wie die
Sprache noch nicht allseitig klar genug ist, der
Trieb des Denkens noch am kräftigsten wal¬
ten, und die scheinbarsten Erzeugnisse hervor¬
bringen werde; daß aber dieser, so wie die
Sprache klarer und bestimmter wird, in den
Fesseln derselben immermehr ersterben; und daß
zulezt die Philosophie eines solchen Volks mit
eignem Bewußtseyn sich bescheiden wird, daß
sie nur eine Erklärung des Wörterbuchs, oder
wie undeutscher Geist unter uns dies hochtö¬
nender ausgedrückt hat, eine Metakritik der

dieſer beſcheiden ſich begnuͤgte. So eines Be¬
ſitzers der lebendigen Sprache Denken nicht
lebendig wird, ſo kann man einen ſolchen ohne
Bedenken beſchuldigen, daß er gar nicht ge¬
dacht, ſondern nur geſchwaͤrmt habe. Den
Beſitzer einer todten Sprache kann man in
demſelben Falle deſſen nicht ſofort beſchuldi¬
gen; gedacht mag er allerdings haben nach
ſeiner Weiſe, die in ſeiner Sprache niederge¬
legten Begriffe ſorgfaͤltig entwikelt; er hat nur
das nicht gethan, was, falls es ihm gelaͤnge,
einem Wunder gleich zu achten waͤre.

Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke
einer todten Sprache im Anfange, wie die
Sprache noch nicht allſeitig klar genug iſt, der
Trieb des Denkens noch am kraͤftigſten wal¬
ten, und die ſcheinbarſten Erzeugniſſe hervor¬
bringen werde; daß aber dieſer, ſo wie die
Sprache klarer und beſtimmter wird, in den
Feſſeln derſelben immermehr erſterben; und daß
zulezt die Philoſophie eines ſolchen Volks mit
eignem Bewußtſeyn ſich beſcheiden wird, daß
ſie nur eine Erklaͤrung des Woͤrterbuchs, oder
wie undeutſcher Geiſt unter uns dies hochtoͤ¬
nender ausgedruͤckt hat, eine Metakritik der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0160" n="154"/>
die&#x017F;er be&#x017F;cheiden &#x017F;ich begnu&#x0364;gte. So eines Be¬<lb/>
&#x017F;itzers der lebendigen Sprache Denken nicht<lb/>
lebendig wird, &#x017F;o kann man einen &#x017F;olchen ohne<lb/>
Bedenken be&#x017F;chuldigen, daß er gar nicht ge¬<lb/>
dacht, &#x017F;ondern nur ge&#x017F;chwa&#x0364;rmt habe. Den<lb/>
Be&#x017F;itzer einer todten Sprache kann man in<lb/>
dem&#x017F;elben Falle de&#x017F;&#x017F;en nicht &#x017F;ofort be&#x017F;chuldi¬<lb/>
gen; gedacht mag er allerdings haben nach<lb/>
&#x017F;einer Wei&#x017F;e, die in &#x017F;einer Sprache niederge¬<lb/>
legten Begriffe &#x017F;orgfa&#x0364;ltig entwikelt; er hat nur<lb/>
das nicht gethan, was, falls es ihm gela&#x0364;nge,<lb/>
einem Wunder gleich zu achten wa&#x0364;re.</p><lb/>
        <p>Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke<lb/>
einer todten Sprache im Anfange, wie die<lb/>
Sprache noch nicht all&#x017F;eitig klar genug i&#x017F;t, der<lb/>
Trieb des Denkens noch am kra&#x0364;ftig&#x017F;ten wal¬<lb/>
ten, und die &#x017F;cheinbar&#x017F;ten Erzeugni&#x017F;&#x017F;e hervor¬<lb/>
bringen werde; daß aber die&#x017F;er, &#x017F;o wie die<lb/>
Sprache klarer und be&#x017F;timmter wird, in den<lb/>
Fe&#x017F;&#x017F;eln der&#x017F;elben immermehr er&#x017F;terben; und daß<lb/>
zulezt die Philo&#x017F;ophie eines &#x017F;olchen Volks mit<lb/>
eignem Bewußt&#x017F;eyn &#x017F;ich be&#x017F;cheiden wird, daß<lb/>
&#x017F;ie nur eine Erkla&#x0364;rung des Wo&#x0364;rterbuchs, oder<lb/>
wie undeut&#x017F;cher Gei&#x017F;t unter uns dies hochto&#x0364;¬<lb/>
nender ausgedru&#x0364;ckt hat, eine Metakritik der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[154/0160] dieſer beſcheiden ſich begnuͤgte. So eines Be¬ ſitzers der lebendigen Sprache Denken nicht lebendig wird, ſo kann man einen ſolchen ohne Bedenken beſchuldigen, daß er gar nicht ge¬ dacht, ſondern nur geſchwaͤrmt habe. Den Beſitzer einer todten Sprache kann man in demſelben Falle deſſen nicht ſofort beſchuldi¬ gen; gedacht mag er allerdings haben nach ſeiner Weiſe, die in ſeiner Sprache niederge¬ legten Begriffe ſorgfaͤltig entwikelt; er hat nur das nicht gethan, was, falls es ihm gelaͤnge, einem Wunder gleich zu achten waͤre. Es erhellet im Vorbeigehen, daß beim Volke einer todten Sprache im Anfange, wie die Sprache noch nicht allſeitig klar genug iſt, der Trieb des Denkens noch am kraͤftigſten wal¬ ten, und die ſcheinbarſten Erzeugniſſe hervor¬ bringen werde; daß aber dieſer, ſo wie die Sprache klarer und beſtimmter wird, in den Feſſeln derſelben immermehr erſterben; und daß zulezt die Philoſophie eines ſolchen Volks mit eignem Bewußtſeyn ſich beſcheiden wird, daß ſie nur eine Erklaͤrung des Woͤrterbuchs, oder wie undeutſcher Geiſt unter uns dies hochtoͤ¬ nender ausgedruͤckt hat, eine Metakritik der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/160
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/160>, abgerufen am 21.11.2024.