Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

der Mensch da ist, ganz und vollendet, und
es kann ihr nichts hinzugefügt werden; denn
diese liegt hinaus über die fortwachsende Er¬
scheinung des sinnlichen Lebens, und ist unabhän¬
gig von ihm. Nur die Erkenntniß ist es, woran
sich dieses sinnliche Leben knüpft, und welche
mit demselben entsteht, und fortwächst. Diese
entwikelt sich nur langsam, und allmählig, im
Fortlaufe der Zeit. Wie soll nun, so lange,
bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des
Rechten und Guten entstehe, an welches das
treibende Wohlgefallen sich knüpfen könne, jene
angebohrne Liebe über die Zeiten der Unwissen¬
heit hinwegkommen, sich entwikeln, und üben?
Die vernünftige Natur hat ohne alles unser
Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das
dem Kinde in seinem Innern abgehende Be¬
wußtseyn stellt sich ihm äußerlich und verkör¬
pert dar an dem Urtheile der erwachsenen Welt.
Bis in ihm selbst ein verständiger Richter sich
entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an
diese verwiesen, und so ihm ein Gewissen
außer ihm gegeben, bis in ihm selber sich eins
erzeuge. Diese bis jetzt wenig bekannte Wahr¬
heit soll die neue Erziehung anerkennen, und

der Menſch da iſt, ganz und vollendet, und
es kann ihr nichts hinzugefuͤgt werden; denn
dieſe liegt hinaus uͤber die fortwachſende Er¬
ſcheinung des ſinnlichen Lebens, und iſt unabhaͤn¬
gig von ihm. Nur die Erkenntniß iſt es, woran
ſich dieſes ſinnliche Leben knuͤpft, und welche
mit demſelben entſteht, und fortwaͤchſt. Dieſe
entwikelt ſich nur langſam, und allmaͤhlig, im
Fortlaufe der Zeit. Wie ſoll nun, ſo lange,
bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des
Rechten und Guten entſtehe, an welches das
treibende Wohlgefallen ſich knuͤpfen koͤnne, jene
angebohrne Liebe uͤber die Zeiten der Unwiſſen¬
heit hinwegkommen, ſich entwikeln, und uͤben?
Die vernuͤnftige Natur hat ohne alles unſer
Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das
dem Kinde in ſeinem Innern abgehende Be¬
wußtſeyn ſtellt ſich ihm aͤußerlich und verkoͤr¬
pert dar an dem Urtheile der erwachſenen Welt.
Bis in ihm ſelbſt ein verſtaͤndiger Richter ſich
entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an
dieſe verwieſen, und ſo ihm ein Gewiſſen
außer ihm gegeben, bis in ihm ſelber ſich eins
erzeuge. Dieſe bis jetzt wenig bekannte Wahr¬
heit ſoll die neue Erziehung anerkennen, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0334" n="328"/>
der Men&#x017F;ch da i&#x017F;t, ganz und vollendet, und<lb/>
es kann ihr nichts hinzugefu&#x0364;gt werden; denn<lb/>
die&#x017F;e liegt hinaus u&#x0364;ber die fortwach&#x017F;ende Er¬<lb/>
&#x017F;cheinung des &#x017F;innlichen Lebens, und i&#x017F;t unabha&#x0364;<lb/>
gig von ihm. Nur die Erkenntniß i&#x017F;t es, woran<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;es &#x017F;innliche Leben knu&#x0364;pft, und welche<lb/>
mit dem&#x017F;elben ent&#x017F;teht, und fortwa&#x0364;ch&#x017F;t. Die&#x017F;e<lb/>
entwikelt &#x017F;ich nur lang&#x017F;am, und allma&#x0364;hlig, im<lb/>
Fortlaufe der Zeit. Wie &#x017F;oll nun, &#x017F;o lange,<lb/>
bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des<lb/>
Rechten und Guten ent&#x017F;tehe, an welches das<lb/>
treibende Wohlgefallen &#x017F;ich knu&#x0364;pfen ko&#x0364;nne, jene<lb/>
angebohrne Liebe u&#x0364;ber die Zeiten der Unwi&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
heit hinwegkommen, &#x017F;ich entwikeln, und u&#x0364;ben?<lb/>
Die vernu&#x0364;nftige Natur hat ohne alles un&#x017F;er<lb/>
Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das<lb/>
dem Kinde in &#x017F;einem Innern abgehende Be¬<lb/>
wußt&#x017F;eyn &#x017F;tellt &#x017F;ich ihm a&#x0364;ußerlich und verko&#x0364;<lb/>
pert dar an dem Urtheile der erwach&#x017F;enen Welt.<lb/>
Bis in ihm &#x017F;elb&#x017F;t ein ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger Richter &#x017F;ich<lb/>
entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an<lb/>
die&#x017F;e verwie&#x017F;en, und &#x017F;o ihm ein Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
außer ihm gegeben, bis in ihm &#x017F;elber &#x017F;ich eins<lb/>
erzeuge. Die&#x017F;e bis jetzt wenig bekannte Wahr¬<lb/>
heit &#x017F;oll die neue Erziehung anerkennen, und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[328/0334] der Menſch da iſt, ganz und vollendet, und es kann ihr nichts hinzugefuͤgt werden; denn dieſe liegt hinaus uͤber die fortwachſende Er¬ ſcheinung des ſinnlichen Lebens, und iſt unabhaͤn¬ gig von ihm. Nur die Erkenntniß iſt es, woran ſich dieſes ſinnliche Leben knuͤpft, und welche mit demſelben entſteht, und fortwaͤchſt. Dieſe entwikelt ſich nur langſam, und allmaͤhlig, im Fortlaufe der Zeit. Wie ſoll nun, ſo lange, bis ein geordnetes Ganzes von Begriffen des Rechten und Guten entſtehe, an welches das treibende Wohlgefallen ſich knuͤpfen koͤnne, jene angebohrne Liebe uͤber die Zeiten der Unwiſſen¬ heit hinwegkommen, ſich entwikeln, und uͤben? Die vernuͤnftige Natur hat ohne alles unſer Zuthun der Schwierigkeit abgeholfen. Das dem Kinde in ſeinem Innern abgehende Be¬ wußtſeyn ſtellt ſich ihm aͤußerlich und verkoͤr¬ pert dar an dem Urtheile der erwachſenen Welt. Bis in ihm ſelbſt ein verſtaͤndiger Richter ſich entwikle, wird es durch einen Naturtrieb an dieſe verwieſen, und ſo ihm ein Gewiſſen außer ihm gegeben, bis in ihm ſelber ſich eins erzeuge. Dieſe bis jetzt wenig bekannte Wahr¬ heit ſoll die neue Erziehung anerkennen, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/334
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/334>, abgerufen am 20.05.2024.