Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Wenn jemand auf einem grundlosen und uner- niss
Eine Wiſſenſchaft hat ſyſtematiſche Form; alle Wenn jemand auf einem grundloſen und uner- niſs
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Eine Wiſſenſchaft hat ſyſtematiſche Form; alle
Sätze in ihr hangen in einem einzigen Grundſatze zu-
ſammen, und vereinigen ſich in ihm zu einem Gan-
zen — auch dieſes geſteht man allgemein zu. Aber iſt
nun der Begriff der Wiſſenſchaft erſchöpft?
Wenn jemand auf einem grundloſen und uner-
weiſslichen Satze, z. B. auf dem, daſs es in der Luft
Geſchöpfe mit menſchlichen Neigungen, Leidenſchaf-
ten und Begriffen, und ätheriſchen Körpern gäbe; eine
noch ſo ſyſtematiſche Naturgeſchichte dieſer Luftgeiſter
aufbaute, welches an ſich recht wohl möglich iſt —
würden wir ein ſolches Syſtem, ſo ſtreng auch in demſel-
ben gefolgert wird, und ſo innig auch die einzelnen Thei-
le deſſelben unter einander verkettet ſeyn möchten, für
eine Wiſſenſchaft anerkennen? Hinwiederum wenn
jemand einen einzelnen Lehrſatz oder eine Thatſache
anführt — etwa der mechaniſche Handwerker den Satz;
daſs auf einer Horizontallinie der Perpendikul zu bei-
den Seiten rechte Winkel habe; oder der unſtudierte
Bauer das Faktum: daſs der jüdiſche Geſchichtſchreiber
Ioſephus zur Zeit der Zerſtörung Jeruſalems gelebt ha-
be — ſo wird jederman zugeſtehen, derſelbe habe Wiſ-
ſenſchaft von dem geſagten; obgleich der erſtere nicht
den geometriſchen Beweis ſeines Satzes von dem erſten
Grundſatze dieſer Wiſſenſchaft an ſyſtematiſch fuhren,
noch der andere die hiſtoriſche Glaubwürdigkeit ſeiner
Angabe ſchulgerecht darthun kann, ſondern beide die
Sache nur auf Treu und Glauben angenommen haben.
Warum nennen wir nun jenes feſte Syſtem, das auf ei-
nem unerwieſenen, und unerweiſsbaren Satze beruhet,
nicht Wiſſenſchaft; und warum nennen wir die Kennt-
niſs
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