Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

überall werden wir künstlerisches Bemühen erwachen und
erblühen sehen; bald nur kümmerlich und bescheiden sich
hervorwagend, bald gesund und kräftig sich entfaltend,
bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange
Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren
Gebiete jenes Reiches des sichtbaren Seins zugänglich
bleiben; so staunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen
Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬
nehmen, daß sich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬
lichen Kraft bis in seine innersten Räume aufthut und uns
einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.

Das unendlich verschiedene Maß an jeweilig vor¬
handener künstlerischer Kraft ist es auch allein, welches
den Gang der Kunst bestimmt. Wohl bilden sich unter
all den Erzeugnissen, die bei aller Verschiedenheit ihrer
Erscheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem
gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung
entspringen, über zeitliche Abstände und räumliche Tren¬
nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältnisse. Durch
die thatsächlichen Anregungen, die das Spätere von dem
Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das
Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme
begünstigt, daß die künstlerische Leistungsfähigkeit der Men¬
schen sich in einem großen Entwickelungsgange von dem
Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum
Vollkommneren bewege. Und doch ist die Macht, die der
geschichtliche Zusammenhang auf das künstlerische Thun
ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,

überall werden wir künſtleriſches Bemühen erwachen und
erblühen ſehen; bald nur kümmerlich und beſcheiden ſich
hervorwagend, bald geſund und kräftig ſich entfaltend,
bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange
Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren
Gebiete jenes Reiches des ſichtbaren Seins zugänglich
bleiben; ſo ſtaunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen
Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬
nehmen, daß ſich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬
lichen Kraft bis in ſeine innerſten Räume aufthut und uns
einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.

Das unendlich verſchiedene Maß an jeweilig vor¬
handener künſtleriſcher Kraft iſt es auch allein, welches
den Gang der Kunſt beſtimmt. Wohl bilden ſich unter
all den Erzeugniſſen, die bei aller Verſchiedenheit ihrer
Erſcheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem
gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung
entſpringen, über zeitliche Abſtände und räumliche Tren¬
nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältniſſe. Durch
die thatſächlichen Anregungen, die das Spätere von dem
Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das
Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme
begünſtigt, daß die künſtleriſche Leiſtungsfähigkeit der Men¬
ſchen ſich in einem großen Entwickelungsgange von dem
Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum
Vollkommneren bewege. Und doch iſt die Macht, die der
geſchichtliche Zuſammenhang auf das künſtleriſche Thun
ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0148" n="136"/>
überall werden wir kün&#x017F;tleri&#x017F;ches Bemühen erwachen und<lb/>
erblühen &#x017F;ehen; bald nur kümmerlich und be&#x017F;cheiden &#x017F;ich<lb/>
hervorwagend, bald ge&#x017F;und und kräftig &#x017F;ich entfaltend,<lb/>
bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange<lb/>
Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren<lb/>
Gebiete jenes Reiches des &#x017F;ichtbaren Seins zugänglich<lb/>
bleiben; &#x017F;o &#x017F;taunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen<lb/>
Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬<lb/>
nehmen, daß &#x017F;ich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬<lb/>
lichen Kraft bis in &#x017F;eine inner&#x017F;ten Räume aufthut und uns<lb/>
einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart.</p><lb/>
        <p>Das unendlich ver&#x017F;chiedene Maß an jeweilig vor¬<lb/>
handener kün&#x017F;tleri&#x017F;cher Kraft i&#x017F;t es auch allein, welches<lb/>
den Gang der Kun&#x017F;t be&#x017F;timmt. Wohl bilden &#x017F;ich unter<lb/>
all den Erzeugni&#x017F;&#x017F;en, die bei aller Ver&#x017F;chiedenheit ihrer<lb/>
Er&#x017F;cheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem<lb/>
gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung<lb/>
ent&#x017F;pringen, über zeitliche Ab&#x017F;tände und räumliche Tren¬<lb/>
nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältni&#x017F;&#x017F;e. Durch<lb/>
die that&#x017F;ächlichen Anregungen, die das Spätere von dem<lb/>
Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das<lb/>
Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme<lb/>
begün&#x017F;tigt, daß die kün&#x017F;tleri&#x017F;che Lei&#x017F;tungsfähigkeit der Men¬<lb/>
&#x017F;chen &#x017F;ich in einem großen Entwickelungsgange von dem<lb/>
Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum<lb/>
Vollkommneren bewege. Und doch i&#x017F;t die Macht, die der<lb/>
ge&#x017F;chichtliche Zu&#x017F;ammenhang auf das kün&#x017F;tleri&#x017F;che Thun<lb/>
ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0148] überall werden wir künſtleriſches Bemühen erwachen und erblühen ſehen; bald nur kümmerlich und beſcheiden ſich hervorwagend, bald geſund und kräftig ſich entfaltend, bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren Gebiete jenes Reiches des ſichtbaren Seins zugänglich bleiben; ſo ſtaunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬ nehmen, daß ſich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬ lichen Kraft bis in ſeine innerſten Räume aufthut und uns einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart. Das unendlich verſchiedene Maß an jeweilig vor¬ handener künſtleriſcher Kraft iſt es auch allein, welches den Gang der Kunſt beſtimmt. Wohl bilden ſich unter all den Erzeugniſſen, die bei aller Verſchiedenheit ihrer Erſcheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung entſpringen, über zeitliche Abſtände und räumliche Tren¬ nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältniſſe. Durch die thatſächlichen Anregungen, die das Spätere von dem Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme begünſtigt, daß die künſtleriſche Leiſtungsfähigkeit der Men¬ ſchen ſich in einem großen Entwickelungsgange von dem Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum Vollkommneren bewege. Und doch iſt die Macht, die der geſchichtliche Zuſammenhang auf das künſtleriſche Thun ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/148
Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/148>, abgerufen am 16.05.2024.