Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

man erst, in der Erkenntniß alles zu besitzen, so meint
man nun, durch sie vielmehr alles zu verlieren. Die geistige
Freiheit, zu der man sich in der Erkenntniß zu entwickeln
glaubte, erscheint als eine geistige Beschränkung, da man
nicht im Stande ist, das dunkle Sein, dessen mannich¬
fache Werdelust man ahnend im eigenen Inneren gewahrt,
anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch,
daß man es selbst aufgiebt und etwas anderes an seine
Stelle setzt.

Und endlich, wo man das geistige Licht sah, welches
sich über die Welt und den Zusammenhang ihrer Er¬
scheinungen verbreitete, da sieht man nun eher einen Schleier,
welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während
man durch das in dem sprachlichen Ausdruck sich dar¬
stellende Denken das geheimste Wesen der Erscheinungen
offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles
Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬
griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben
der Wirklichkeit fortpulsirt, ohne sich aus seinem dunkeln
Zustande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und
wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches,
noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden sein
müsse, damit nur überhaupt jene besondere Art der Aus¬
drucksformen entstehen könne, in der wir die Wirklichkeit
denkend zu erfassen vermögen! Dies aber wird durch diese
Formen selbst erschwert, verhindert. Der Einzelne gelangt
ja nicht durch eigene entwickelnde, schaffende Thätigkeit in
den Besitz derselben: er schafft die Welt nicht, die er durch

man erſt, in der Erkenntniß alles zu beſitzen, ſo meint
man nun, durch ſie vielmehr alles zu verlieren. Die geiſtige
Freiheit, zu der man ſich in der Erkenntniß zu entwickeln
glaubte, erſcheint als eine geiſtige Beſchränkung, da man
nicht im Stande iſt, das dunkle Sein, deſſen mannich¬
fache Werdeluſt man ahnend im eigenen Inneren gewahrt,
anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch,
daß man es ſelbſt aufgiebt und etwas anderes an ſeine
Stelle ſetzt.

Und endlich, wo man das geiſtige Licht ſah, welches
ſich über die Welt und den Zuſammenhang ihrer Er¬
ſcheinungen verbreitete, da ſieht man nun eher einen Schleier,
welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während
man durch das in dem ſprachlichen Ausdruck ſich dar¬
ſtellende Denken das geheimſte Weſen der Erſcheinungen
offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles
Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬
griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben
der Wirklichkeit fortpulſirt, ohne ſich aus ſeinem dunkeln
Zuſtande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und
wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches,
noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden ſein
müſſe, damit nur überhaupt jene beſondere Art der Aus¬
drucksformen entſtehen könne, in der wir die Wirklichkeit
denkend zu erfaſſen vermögen! Dies aber wird durch dieſe
Formen ſelbſt erſchwert, verhindert. Der Einzelne gelangt
ja nicht durch eigene entwickelnde, ſchaffende Thätigkeit in
den Beſitz derſelben: er ſchafft die Welt nicht, die er durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0034" n="22"/>
man er&#x017F;t, in der Erkenntniß alles zu be&#x017F;itzen, &#x017F;o meint<lb/>
man nun, durch &#x017F;ie vielmehr alles zu verlieren. Die gei&#x017F;tige<lb/>
Freiheit, zu der man &#x017F;ich in der Erkenntniß zu entwickeln<lb/>
glaubte, er&#x017F;cheint als eine gei&#x017F;tige Be&#x017F;chränkung, da man<lb/>
nicht im Stande i&#x017F;t, das dunkle Sein, de&#x017F;&#x017F;en mannich¬<lb/>
fache Werdelu&#x017F;t man ahnend im eigenen Inneren gewahrt,<lb/>
anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch,<lb/>
daß man es &#x017F;elb&#x017F;t aufgiebt und etwas anderes an &#x017F;eine<lb/>
Stelle &#x017F;etzt.</p><lb/>
        <p>Und endlich, wo man das gei&#x017F;tige Licht &#x017F;ah, welches<lb/>
&#x017F;ich über die Welt und den Zu&#x017F;ammenhang ihrer Er¬<lb/>
&#x017F;cheinungen verbreitete, da &#x017F;ieht man nun eher einen Schleier,<lb/>
welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während<lb/>
man durch das in dem &#x017F;prachlichen Ausdruck &#x017F;ich dar¬<lb/>
&#x017F;tellende Denken das geheim&#x017F;te We&#x017F;en der Er&#x017F;cheinungen<lb/>
offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles<lb/>
Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬<lb/>
griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben<lb/>
der Wirklichkeit fortpul&#x017F;irt, ohne &#x017F;ich aus &#x017F;einem dunkeln<lb/>
Zu&#x017F;tande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und<lb/>
wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches,<lb/>
noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden &#x017F;ein<lb/>&#x017F;&#x017F;e, damit nur überhaupt jene be&#x017F;ondere Art der Aus¬<lb/>
drucksformen ent&#x017F;tehen könne, in der wir die Wirklichkeit<lb/>
denkend zu erfa&#x017F;&#x017F;en vermögen! Dies aber wird durch die&#x017F;e<lb/>
Formen &#x017F;elb&#x017F;t er&#x017F;chwert, verhindert. Der Einzelne gelangt<lb/>
ja nicht durch eigene entwickelnde, &#x017F;chaffende Thätigkeit in<lb/>
den Be&#x017F;itz der&#x017F;elben: er &#x017F;chafft die Welt nicht, die er durch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0034] man erſt, in der Erkenntniß alles zu beſitzen, ſo meint man nun, durch ſie vielmehr alles zu verlieren. Die geiſtige Freiheit, zu der man ſich in der Erkenntniß zu entwickeln glaubte, erſcheint als eine geiſtige Beſchränkung, da man nicht im Stande iſt, das dunkle Sein, deſſen mannich¬ fache Werdeluſt man ahnend im eigenen Inneren gewahrt, anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch, daß man es ſelbſt aufgiebt und etwas anderes an ſeine Stelle ſetzt. Und endlich, wo man das geiſtige Licht ſah, welches ſich über die Welt und den Zuſammenhang ihrer Er¬ ſcheinungen verbreitete, da ſieht man nun eher einen Schleier, welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während man durch das in dem ſprachlichen Ausdruck ſich dar¬ ſtellende Denken das geheimſte Weſen der Erſcheinungen offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬ griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben der Wirklichkeit fortpulſirt, ohne ſich aus ſeinem dunkeln Zuſtande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches, noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden ſein müſſe, damit nur überhaupt jene beſondere Art der Aus¬ drucksformen entſtehen könne, in der wir die Wirklichkeit denkend zu erfaſſen vermögen! Dies aber wird durch dieſe Formen ſelbſt erſchwert, verhindert. Der Einzelne gelangt ja nicht durch eigene entwickelnde, ſchaffende Thätigkeit in den Beſitz derſelben: er ſchafft die Welt nicht, die er durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/34
Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/34>, abgerufen am 21.11.2024.