an eine bestimmte Form gebunden ist, sondern sich in jener willkürlichen und beständig wechselnden Concurrenz seiner verschiedenen sinnlichen Qualitäten erschöpft.
Wie es nun aber um die Gestaltung eines sinnlich Vorhandenen nach den einzelnen Seiten seiner sinnlichen Beschaffenheit bestellt ist, das werden wir am besten er¬ kennen, wenn wir eine bestimmte Seite dieser Beschaffen¬ heit, die Sichtbarkeit, ins Auge fassen. Wir kommen hier auf das eigentliche Thema der vorliegenden Untersuchungen. Hatte es sich in dem Vorhergehenden um das Eingeständ¬ niß gehandelt, daß wir in einer Täuschung leben, solange wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich- Vollständiges in irgend einem Gebilde unseres Bewußtseins besitzen zu können: so handelt es sich nun um den Nach¬ weis, daß auch ein sichtbarer Gegenstand eben dieser seiner Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung gelangtes Gesichtsbild so ohne weiteres nicht angehören könne. Und daraus wird sich, wie wir sehen werden, die natürliche Folgerung ergeben, daß der Mensch eine Ent¬ wickelung seiner Gesichtsbilder zu höheren Graden des Vorhandenseins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch welche sichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden, und daß diese Thätigkeit keine andere als die künstlerische sei.
Zwar wissen wir, daß im gewöhnlichen Leben und bei vielen Beschäftigungen, wo sich die Aufmerksamkeit auf das Aussehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieses Gesichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬ entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollständig
an eine beſtimmte Form gebunden iſt, ſondern ſich in jener willkürlichen und beſtändig wechſelnden Concurrenz ſeiner verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten erſchöpft.
Wie es nun aber um die Geſtaltung eines ſinnlich Vorhandenen nach den einzelnen Seiten ſeiner ſinnlichen Beſchaffenheit beſtellt iſt, das werden wir am beſten er¬ kennen, wenn wir eine beſtimmte Seite dieſer Beſchaffen¬ heit, die Sichtbarkeit, ins Auge faſſen. Wir kommen hier auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unterſuchungen. Hatte es ſich in dem Vorhergehenden um das Eingeſtänd¬ niß gehandelt, daß wir in einer Täuſchung leben, ſolange wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich- Vollſtändiges in irgend einem Gebilde unſeres Bewußtſeins beſitzen zu können: ſo handelt es ſich nun um den Nach¬ weis, daß auch ein ſichtbarer Gegenſtand eben dieſer ſeiner Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung gelangtes Geſichtsbild ſo ohne weiteres nicht angehören könne. Und daraus wird ſich, wie wir ſehen werden, die natürliche Folgerung ergeben, daß der Menſch eine Ent¬ wickelung ſeiner Geſichtsbilder zu höheren Graden des Vorhandenſeins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch welche ſichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden, und daß dieſe Thätigkeit keine andere als die künſtleriſche ſei.
Zwar wiſſen wir, daß im gewöhnlichen Leben und bei vielen Beſchäftigungen, wo ſich die Aufmerkſamkeit auf das Ausſehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieſes Geſichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬ entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollſtändig
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[55/0067]
an eine beſtimmte Form gebunden iſt, ſondern ſich in jener
willkürlichen und beſtändig wechſelnden Concurrenz ſeiner
verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten erſchöpft.
Wie es nun aber um die Geſtaltung eines ſinnlich
Vorhandenen nach den einzelnen Seiten ſeiner ſinnlichen
Beſchaffenheit beſtellt iſt, das werden wir am beſten er¬
kennen, wenn wir eine beſtimmte Seite dieſer Beſchaffen¬
heit, die Sichtbarkeit, ins Auge faſſen. Wir kommen hier
auf das eigentliche Thema der vorliegenden Unterſuchungen.
Hatte es ſich in dem Vorhergehenden um das Eingeſtänd¬
niß gehandelt, daß wir in einer Täuſchung leben, ſolange
wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich-
Vollſtändiges in irgend einem Gebilde unſeres Bewußtſeins
beſitzen zu können: ſo handelt es ſich nun um den Nach¬
weis, daß auch ein ſichtbarer Gegenſtand eben dieſer ſeiner
Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung
gelangtes Geſichtsbild ſo ohne weiteres nicht angehören
könne. Und daraus wird ſich, wie wir ſehen werden, die
natürliche Folgerung ergeben, daß der Menſch eine Ent¬
wickelung ſeiner Geſichtsbilder zu höheren Graden des
Vorhandenſeins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch
welche ſichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden,
und daß dieſe Thätigkeit keine andere als die künſtleriſche ſei.
Zwar wiſſen wir, daß im gewöhnlichen Leben und
bei vielen Beſchäftigungen, wo ſich die Aufmerkſamkeit auf
das Ausſehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieſes
Geſichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/67>, abgerufen am 16.07.2024.
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