Auffassung von Formen, namentlich complicirter Art, kein geeignetes und hinreichendes Organ sei, und unterscheidet dabei nicht hinlänglich, daß die Form, die überhaupt eine sichtbare Form ist, nur dem Gesichtssinn verdankt werden kann, daß aber die Form, deren Entstehung auf anderen Sinneswahrnehmungen beruht, mit der sichtbaren Form gar nichts zu thun hat. Es hat gar keinen Sinn, zu sagen, das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollständig gerecht zu werden, während man diese Form mit der höchsten Genauigkeit messen und berechnen könne. Als ob es eine Form schlechthin gäbe, und als ob die verschie¬ denen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten Werkzeuge wären, sich diese Form anzueignen. Was kann es der Form, die durch und für das Auge entsteht, nützen, wenn eine Form festgestellt wird, die gar nicht als eine sichtbare in unser wahrnehmendes und vorstellendes Be¬ wußtsein treten kann?
Es ist nicht überflüssig, hier noch einiger Mißver¬ ständnisse zu gedenken, denen man wohl begegnet. Man kann die Behauptung aufstellen hören, für die Wiedergabe sowohl der stereometrischen als auch der auf eine Fläche projicirten Form eines Körpers sei ein mechanisches Ver¬ fahren wie in jenem Falle das der Abformung, in diesem das der Photographie, das zuverlässigste Mittel. Nun ist klar, daß, wenn ich einen Gegenstand abforme, ich damit zwar einen zweiten tastbaren und auch sichtbaren Gegen¬ stand, keineswegs aber einen Ausdruck des Gesichtsbildes herstelle, welches ich von dem Gegenstand empfange. Ich
Auffaſſung von Formen, namentlich complicirter Art, kein geeignetes und hinreichendes Organ ſei, und unterſcheidet dabei nicht hinlänglich, daß die Form, die überhaupt eine ſichtbare Form iſt, nur dem Geſichtsſinn verdankt werden kann, daß aber die Form, deren Entſtehung auf anderen Sinneswahrnehmungen beruht, mit der ſichtbaren Form gar nichts zu thun hat. Es hat gar keinen Sinn, zu ſagen, das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollſtändig gerecht zu werden, während man dieſe Form mit der höchſten Genauigkeit meſſen und berechnen könne. Als ob es eine Form ſchlechthin gäbe, und als ob die verſchie¬ denen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten Werkzeuge wären, ſich dieſe Form anzueignen. Was kann es der Form, die durch und für das Auge entſteht, nützen, wenn eine Form feſtgeſtellt wird, die gar nicht als eine ſichtbare in unſer wahrnehmendes und vorſtellendes Be¬ wußtſein treten kann?
Es iſt nicht überflüſſig, hier noch einiger Mißver¬ ſtändniſſe zu gedenken, denen man wohl begegnet. Man kann die Behauptung aufſtellen hören, für die Wiedergabe ſowohl der ſtereometriſchen als auch der auf eine Fläche projicirten Form eines Körpers ſei ein mechaniſches Ver¬ fahren wie in jenem Falle das der Abformung, in dieſem das der Photographie, das zuverläſſigſte Mittel. Nun iſt klar, daß, wenn ich einen Gegenſtand abforme, ich damit zwar einen zweiten taſtbaren und auch ſichtbaren Gegen¬ ſtand, keineswegs aber einen Ausdruck des Geſichtsbildes herſtelle, welches ich von dem Gegenſtand empfange. Ich
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Auffaſſung von Formen, namentlich complicirter Art, kein
geeignetes und hinreichendes Organ ſei, und unterſcheidet
dabei nicht hinlänglich, daß die Form, die überhaupt eine
ſichtbare Form iſt, nur dem Geſichtsſinn verdankt werden
kann, daß aber die Form, deren Entſtehung auf anderen
Sinneswahrnehmungen beruht, mit der ſichtbaren Form
gar nichts zu thun hat. Es hat gar keinen Sinn, zu ſagen,
das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollſtändig
gerecht zu werden, während man dieſe Form mit der
höchſten Genauigkeit meſſen und berechnen könne. Als ob
es eine Form ſchlechthin gäbe, und als ob die verſchie¬
denen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten
Werkzeuge wären, ſich dieſe Form anzueignen. Was kann
es der Form, die durch und für das Auge entſteht, nützen,
wenn eine Form feſtgeſtellt wird, die gar nicht als eine
ſichtbare in unſer wahrnehmendes und vorſtellendes Be¬
wußtſein treten kann?
Es iſt nicht überflüſſig, hier noch einiger Mißver¬
ſtändniſſe zu gedenken, denen man wohl begegnet. Man
kann die Behauptung aufſtellen hören, für die Wiedergabe
ſowohl der ſtereometriſchen als auch der auf eine Fläche
projicirten Form eines Körpers ſei ein mechaniſches Ver¬
fahren wie in jenem Falle das der Abformung, in dieſem
das der Photographie, das zuverläſſigſte Mittel. Nun iſt
klar, daß, wenn ich einen Gegenſtand abforme, ich damit
zwar einen zweiten taſtbaren und auch ſichtbaren Gegen¬
ſtand, keineswegs aber einen Ausdruck des Geſichtsbildes
herſtelle, welches ich von dem Gegenſtand empfange. Ich
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/73>, abgerufen am 16.02.2025.
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