Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

wie weit dieselben ihn befähigen, auf dieser Bahn vorzu¬
dringen. Es handelt sich für ihn ja nicht mehr um das
bloße Wahrnehmen eines sichtbar Vorhandenen, sondern
um die Entwickelung und Bildung von Vorstellungen, in
denen sich die Wirklichkeit allererst darstellt, sofern sie eine
sichtbare Wirklichkeit sein kann. Er befindet sich dem gegen¬
über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt ist, in einer
sehr veränderten Stellung; alles körperlich Feste ist ihm
entzogen, da es eben nichts Sichtbares ist, und der alleinige
Stoff, in dem sich sein Wirklichkeitsbewußtsein gestalten
kann, sind die Licht- und Farbenempfindungen, die er
seinem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der
sichtbaren Welt enthüllt sich ihm nun angewiesen in seinem
Bestand auf den zartesten, gleichsam unkörperlichsten Stoff,
in seinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬
zelne jenen Stoff zusammenwebt. Er begreift, daß, indem
er sieht oder Gesehenes vorstellt, in dem Bereiche seines
Gesichtssinnes nichts anderes vorhanden ist, als die sich
entwickelnde Gesichtsvorstellung, und daß es, wenn er nichts
sieht oder nicht Gesehenes vorstellt, keinen Sinn hat, von
einer sichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu
sprechen. Wird so auf der einen Seite die sichtbare Welt
zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir sonst als stoff¬
lich bestimmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt
sind, irgend etwas beiträgt, so sehen wir auf der anderen
Seite ein, daß es uns, um zur Bestimmtheit und Klar¬
heit, zum Wissen dessen, was wir sehen, zu gelangen, gar
nichts nützt, wenn wir von dem, was wir sehen, auf etwas

wie weit dieſelben ihn befähigen, auf dieſer Bahn vorzu¬
dringen. Es handelt ſich für ihn ja nicht mehr um das
bloße Wahrnehmen eines ſichtbar Vorhandenen, ſondern
um die Entwickelung und Bildung von Vorſtellungen, in
denen ſich die Wirklichkeit allererſt darſtellt, ſofern ſie eine
ſichtbare Wirklichkeit ſein kann. Er befindet ſich dem gegen¬
über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt iſt, in einer
ſehr veränderten Stellung; alles körperlich Feſte iſt ihm
entzogen, da es eben nichts Sichtbares iſt, und der alleinige
Stoff, in dem ſich ſein Wirklichkeitsbewußtſein geſtalten
kann, ſind die Licht- und Farbenempfindungen, die er
ſeinem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der
ſichtbaren Welt enthüllt ſich ihm nun angewieſen in ſeinem
Beſtand auf den zarteſten, gleichſam unkörperlichſten Stoff,
in ſeinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬
zelne jenen Stoff zuſammenwebt. Er begreift, daß, indem
er ſieht oder Geſehenes vorſtellt, in dem Bereiche ſeines
Geſichtsſinnes nichts anderes vorhanden iſt, als die ſich
entwickelnde Geſichtsvorſtellung, und daß es, wenn er nichts
ſieht oder nicht Geſehenes vorſtellt, keinen Sinn hat, von
einer ſichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu
ſprechen. Wird ſo auf der einen Seite die ſichtbare Welt
zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir ſonſt als ſtoff¬
lich beſtimmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt
ſind, irgend etwas beiträgt, ſo ſehen wir auf der anderen
Seite ein, daß es uns, um zur Beſtimmtheit und Klar¬
heit, zum Wiſſen deſſen, was wir ſehen, zu gelangen, gar
nichts nützt, wenn wir von dem, was wir ſehen, auf etwas

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0080" n="68"/>
wie weit die&#x017F;elben ihn befähigen, auf die&#x017F;er Bahn vorzu¬<lb/>
dringen. Es handelt &#x017F;ich für ihn ja nicht mehr um das<lb/>
bloße Wahrnehmen eines &#x017F;ichtbar Vorhandenen, &#x017F;ondern<lb/>
um die Entwickelung und Bildung von Vor&#x017F;tellungen, in<lb/>
denen &#x017F;ich die Wirklichkeit allerer&#x017F;t dar&#x017F;tellt, &#x017F;ofern &#x017F;ie eine<lb/>
&#x017F;ichtbare Wirklichkeit &#x017F;ein kann. Er befindet &#x017F;ich dem gegen¬<lb/>
über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt i&#x017F;t, in einer<lb/>
&#x017F;ehr veränderten Stellung; alles körperlich Fe&#x017F;te i&#x017F;t ihm<lb/>
entzogen, da es eben nichts Sichtbares i&#x017F;t, und der alleinige<lb/>
Stoff, in dem &#x017F;ich &#x017F;ein Wirklichkeitsbewußt&#x017F;ein ge&#x017F;talten<lb/>
kann, &#x017F;ind die Licht- und Farbenempfindungen, die er<lb/>
&#x017F;einem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der<lb/>
&#x017F;ichtbaren Welt enthüllt &#x017F;ich ihm nun angewie&#x017F;en in &#x017F;einem<lb/>
Be&#x017F;tand auf den zarte&#x017F;ten, gleich&#x017F;am unkörperlich&#x017F;ten Stoff,<lb/>
in &#x017F;einen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬<lb/>
zelne jenen Stoff zu&#x017F;ammenwebt. Er begreift, daß, indem<lb/>
er &#x017F;ieht oder Ge&#x017F;ehenes vor&#x017F;tellt, in dem Bereiche &#x017F;eines<lb/>
Ge&#x017F;ichts&#x017F;innes nichts anderes vorhanden i&#x017F;t, als die &#x017F;ich<lb/>
entwickelnde Ge&#x017F;ichtsvor&#x017F;tellung, und daß es, wenn er nichts<lb/>
&#x017F;ieht oder nicht Ge&#x017F;ehenes vor&#x017F;tellt, keinen Sinn hat, von<lb/>
einer &#x017F;ichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu<lb/>
&#x017F;prechen. Wird &#x017F;o auf der einen Seite die &#x017F;ichtbare Welt<lb/>
zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir &#x017F;on&#x017F;t als &#x017F;toff¬<lb/>
lich be&#x017F;timmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt<lb/>
&#x017F;ind, irgend etwas beiträgt, &#x017F;o &#x017F;ehen wir auf der anderen<lb/>
Seite ein, daß es uns, um zur Be&#x017F;timmtheit und Klar¬<lb/>
heit, zum Wi&#x017F;&#x017F;en de&#x017F;&#x017F;en, was wir &#x017F;ehen, zu gelangen, gar<lb/>
nichts nützt, wenn wir von dem, was wir &#x017F;ehen, auf etwas<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0080] wie weit dieſelben ihn befähigen, auf dieſer Bahn vorzu¬ dringen. Es handelt ſich für ihn ja nicht mehr um das bloße Wahrnehmen eines ſichtbar Vorhandenen, ſondern um die Entwickelung und Bildung von Vorſtellungen, in denen ſich die Wirklichkeit allererſt darſtellt, ſofern ſie eine ſichtbare Wirklichkeit ſein kann. Er befindet ſich dem gegen¬ über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt iſt, in einer ſehr veränderten Stellung; alles körperlich Feſte iſt ihm entzogen, da es eben nichts Sichtbares iſt, und der alleinige Stoff, in dem ſich ſein Wirklichkeitsbewußtſein geſtalten kann, ſind die Licht- und Farbenempfindungen, die er ſeinem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der ſichtbaren Welt enthüllt ſich ihm nun angewieſen in ſeinem Beſtand auf den zarteſten, gleichſam unkörperlichſten Stoff, in ſeinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬ zelne jenen Stoff zuſammenwebt. Er begreift, daß, indem er ſieht oder Geſehenes vorſtellt, in dem Bereiche ſeines Geſichtsſinnes nichts anderes vorhanden iſt, als die ſich entwickelnde Geſichtsvorſtellung, und daß es, wenn er nichts ſieht oder nicht Geſehenes vorſtellt, keinen Sinn hat, von einer ſichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu ſprechen. Wird ſo auf der einen Seite die ſichtbare Welt zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir ſonſt als ſtoff¬ lich beſtimmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt ſind, irgend etwas beiträgt, ſo ſehen wir auf der anderen Seite ein, daß es uns, um zur Beſtimmtheit und Klar¬ heit, zum Wiſſen deſſen, was wir ſehen, zu gelangen, gar nichts nützt, wenn wir von dem, was wir ſehen, auf etwas

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/80
Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/80>, abgerufen am 21.11.2024.