Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0016" n="16"/> <p><lb/> 14 FISCHER:</p> <p><lb/> Leben getreten, der auch die weitere physikalisch-chemische Bearbeitung<lb/> des Gebietes auf dem von vanʼt Hoff gebahnten Wege betreiben wird.<lb/> Das Studium der Kalisalze ist an Umfang zweifellos die größte Ex-<lb/> perimentalarbeit vanʼt Hoffs, und der theoretischen Durchdringung des<lb/> Problems steht hier ebenbürtig die unermüdliche, über 12 Jahre sich er-<lb/> streckende Sammmlung der Beobachtungen zur Seite. Manche interessante<lb/> geologische Frage wird dabei berührt und zugleich die Synthese von Mine-<lb/> ralien durch die erste künstliche Bereitung von mehreren Staßfurter Salzen<lb/> bereichert.<lb/> Zu dem Ruhm des schöpferischen Theoretikers gesellt sich nun auch<lb/> der Lorbeer des geschickten, sorgfältigen und ausdauernden Experimen-<lb/> tators.<lb/> Manche seiner Freunde haben die Berliner Periode als eine Zeit der<lb/> Ruhe oder wohl gar der Erschöpfung angesehen, die nach den voraus-<lb/> gegangenen theoretischen Leistungen begreiflich gewesen wäre. Aber<lb/> könnte es nicht auch umgekehrt so sein, daß das von van’t Hoff früher be-<lb/> arbeitete Gebiet gerade durch seine Entdeckungen erschöpft war? Wo<lb/> die naturwissenschaftliche Spekulation ernten will, muß der Acker zuvor<lb/> durch die Beobachtung vorbereitet sein, und je gründlicher der theore-<lb/> tische Schnitter sein Werk besorgt hat, um so länger dauert es, bis wie-<lb/> der neue Früchte heranreifen. Tatsächlich ist seit zwei Dezennien, wenn<lb/> man von der Radioaktivität absieht, keine Theorie in der Chemie aufge-<lb/> taucht, die den zuvor erwähnten vanʼt Hoffschen Ideen an Einfachheit<lb/> und allgemeiner Gültigkeit gleichgestellt werden könnte. Wahrscheinlich<lb/> hat er diesen Zustand der Wissenschaft richtig empfunden und sich zum<lb/> Experiment, dem Jungbrunnen des Naturforschers, geflüchtet, ähnlich dem<lb/> alternden Faust, der von der Spekulation übersättigt, sich nach den Brü-<lb/> sten der ewig jungen Natur zurücksehnt.<lb/> Wie wenig durch die scheinbare Ruhe seine Unternehmungslust ver-<lb/> mindert war, lehrt der letzte Abschnitt seiner wissenschaftlichen Arbeit.<lb/> Trotz vorgeschrittenen Alters und den Plagen einer tückischen Krankheit<lb/> faßte er vor einigen Jahren den kühnen Entschluß, sich den Grundproblemen<lb/> der Biologie, insbesondere der Bildung organischer Materie in den Pflanzen,<lb/> zuzuwenden. Zwei Veröffentlichungen in unseren Sitzungsberichten »Über<lb/> synthetische Fermentwirkung« zeigen den Weg an, den er zu beschreiten<lb/> gedachte.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0016]
14 FISCHER:
Leben getreten, der auch die weitere physikalisch-chemische Bearbeitung
des Gebietes auf dem von vanʼt Hoff gebahnten Wege betreiben wird.
Das Studium der Kalisalze ist an Umfang zweifellos die größte Ex-
perimentalarbeit vanʼt Hoffs, und der theoretischen Durchdringung des
Problems steht hier ebenbürtig die unermüdliche, über 12 Jahre sich er-
streckende Sammmlung der Beobachtungen zur Seite. Manche interessante
geologische Frage wird dabei berührt und zugleich die Synthese von Mine-
ralien durch die erste künstliche Bereitung von mehreren Staßfurter Salzen
bereichert.
Zu dem Ruhm des schöpferischen Theoretikers gesellt sich nun auch
der Lorbeer des geschickten, sorgfältigen und ausdauernden Experimen-
tators.
Manche seiner Freunde haben die Berliner Periode als eine Zeit der
Ruhe oder wohl gar der Erschöpfung angesehen, die nach den voraus-
gegangenen theoretischen Leistungen begreiflich gewesen wäre. Aber
könnte es nicht auch umgekehrt so sein, daß das von van’t Hoff früher be-
arbeitete Gebiet gerade durch seine Entdeckungen erschöpft war? Wo
die naturwissenschaftliche Spekulation ernten will, muß der Acker zuvor
durch die Beobachtung vorbereitet sein, und je gründlicher der theore-
tische Schnitter sein Werk besorgt hat, um so länger dauert es, bis wie-
der neue Früchte heranreifen. Tatsächlich ist seit zwei Dezennien, wenn
man von der Radioaktivität absieht, keine Theorie in der Chemie aufge-
taucht, die den zuvor erwähnten vanʼt Hoffschen Ideen an Einfachheit
und allgemeiner Gültigkeit gleichgestellt werden könnte. Wahrscheinlich
hat er diesen Zustand der Wissenschaft richtig empfunden und sich zum
Experiment, dem Jungbrunnen des Naturforschers, geflüchtet, ähnlich dem
alternden Faust, der von der Spekulation übersättigt, sich nach den Brü-
sten der ewig jungen Natur zurücksehnt.
Wie wenig durch die scheinbare Ruhe seine Unternehmungslust ver-
mindert war, lehrt der letzte Abschnitt seiner wissenschaftlichen Arbeit.
Trotz vorgeschrittenen Alters und den Plagen einer tückischen Krankheit
faßte er vor einigen Jahren den kühnen Entschluß, sich den Grundproblemen
der Biologie, insbesondere der Bildung organischer Materie in den Pflanzen,
zuzuwenden. Zwei Veröffentlichungen in unseren Sitzungsberichten »Über
synthetische Fermentwirkung« zeigen den Weg an, den er zu beschreiten
gedachte.
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