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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862.

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Inschrift: "Puteal, sacra bacchica exhibens, idem illud, in
quo, ad martyrium patiendum, circa A. C. C. XXIII, S.
Calistus immersus traditur, ex ejusdem S. Calisti aede
Romana Transtiberina emptionis jure huc devectum.
(Also
etwa: Diese Brunnenmündung, einen Bacchuszug auf ihrer Außen-
seite darstellend, ist dieselbe, in welcher, einer Sage nach, der hei-
lige Calixtus ertränkt wurde und das Martyrium erduldete, etwa
223 nach Christus. In der Kirche des heiligen Calixtus zu Tra-
stevere bei Rom käuflich erstanden, wurde sie (die Brunnenmün-
dung) hierher gebracht.)

Zu beiden Seiten des Atriums befinden sich verschiedene
Räumlichkeiten, die alle ohne Bedeutung sind, mit Ausnahme des
nach rechts hin gelegenen Studirzimmers Wilhelms von Humboldt.
Vieles darin erinnert noch an seinen ehemaligen Bewohner, der
hier die reifsten seiner Arbeiten überdachte und niederschrieb. Hier
entstanden, seiner Familie selbst ein Geheimniß und nach seinem
Tode erst aufgefunden, jene Sonette, die Alexander von Humboldt
gewiß mit Recht "die Selbstbiographie, die Charakteristik des theuren
Bruders" genannt hat. Hier traten, in mitternächtiger Stunde,
jene stillen Klagen und Bekenntnisse an's Licht, zu deren sorglicher
Concipirung und Gestaltung ihm die Arbeit des Tages keine
Muße gegönnt hatte; hier schrieb er in Dankbarkeit gegen die
Stille und Verschwiegenheit der Nacht:

Das Leben ist an Möglichkeit gebunden,
Und ihre Grenzen sind oft eng gezogen;
Der Freude Maaß wird spärlich zugewogen,
Des Leidens Knäuel langsam abgewunden.
Allein der Mitternacht geheime Stunden
Sind günstiger dem Sterblichen gewogen;
Wer um des Tages Glück sich fühlt betrogen,
Der heilt im süßen Traum des Wachens Wunden;

stille, durch poetische Innigkeit ausgezeichnete Bekenntnisse, an denen
sich glücklicherweise die bescheidene Hoffnung des Dichters:


13*

Inſchrift: „Puteal, sacra bacchica exhibens, idem illud, in
quo, ad martyrium patiendum, circa A. C. C. XXIII, S.
Calistus immersus traditur, ex ejusdem S. Calisti aede
Romana Transtiberina emptionis jure huc devectum.
(Alſo
etwa: Dieſe Brunnenmündung, einen Bacchuszug auf ihrer Außen-
ſeite darſtellend, iſt dieſelbe, in welcher, einer Sage nach, der hei-
lige Calixtus ertränkt wurde und das Martyrium erduldete, etwa
223 nach Chriſtus. In der Kirche des heiligen Calixtus zu Tra-
ſtevere bei Rom käuflich erſtanden, wurde ſie (die Brunnenmün-
dung) hierher gebracht.)

Zu beiden Seiten des Atriums befinden ſich verſchiedene
Räumlichkeiten, die alle ohne Bedeutung ſind, mit Ausnahme des
nach rechts hin gelegenen Studirzimmers Wilhelms von Humboldt.
Vieles darin erinnert noch an ſeinen ehemaligen Bewohner, der
hier die reifſten ſeiner Arbeiten überdachte und niederſchrieb. Hier
entſtanden, ſeiner Familie ſelbſt ein Geheimniß und nach ſeinem
Tode erſt aufgefunden, jene Sonette, die Alexander von Humboldt
gewiß mit Recht „die Selbſtbiographie, die Charakteriſtik des theuren
Bruders“ genannt hat. Hier traten, in mitternächtiger Stunde,
jene ſtillen Klagen und Bekenntniſſe an’s Licht, zu deren ſorglicher
Concipirung und Geſtaltung ihm die Arbeit des Tages keine
Muße gegönnt hatte; hier ſchrieb er in Dankbarkeit gegen die
Stille und Verſchwiegenheit der Nacht:

Das Leben iſt an Möglichkeit gebunden,
Und ihre Grenzen ſind oft eng gezogen;
Der Freude Maaß wird ſpärlich zugewogen,
Des Leidens Knäuel langſam abgewunden.
Allein der Mitternacht geheime Stunden
Sind günſtiger dem Sterblichen gewogen;
Wer um des Tages Glück ſich fühlt betrogen,
Der heilt im ſüßen Traum des Wachens Wunden;

ſtille, durch poetiſche Innigkeit ausgezeichnete Bekenntniſſe, an denen
ſich glücklicherweiſe die beſcheidene Hoffnung des Dichters:


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[195/0213] Inſchrift: „Puteal, sacra bacchica exhibens, idem illud, in quo, ad martyrium patiendum, circa A. C. C. XXIII, S. Calistus immersus traditur, ex ejusdem S. Calisti aede Romana Transtiberina emptionis jure huc devectum. (Alſo etwa: Dieſe Brunnenmündung, einen Bacchuszug auf ihrer Außen- ſeite darſtellend, iſt dieſelbe, in welcher, einer Sage nach, der hei- lige Calixtus ertränkt wurde und das Martyrium erduldete, etwa 223 nach Chriſtus. In der Kirche des heiligen Calixtus zu Tra- ſtevere bei Rom käuflich erſtanden, wurde ſie (die Brunnenmün- dung) hierher gebracht.) Zu beiden Seiten des Atriums befinden ſich verſchiedene Räumlichkeiten, die alle ohne Bedeutung ſind, mit Ausnahme des nach rechts hin gelegenen Studirzimmers Wilhelms von Humboldt. Vieles darin erinnert noch an ſeinen ehemaligen Bewohner, der hier die reifſten ſeiner Arbeiten überdachte und niederſchrieb. Hier entſtanden, ſeiner Familie ſelbſt ein Geheimniß und nach ſeinem Tode erſt aufgefunden, jene Sonette, die Alexander von Humboldt gewiß mit Recht „die Selbſtbiographie, die Charakteriſtik des theuren Bruders“ genannt hat. Hier traten, in mitternächtiger Stunde, jene ſtillen Klagen und Bekenntniſſe an’s Licht, zu deren ſorglicher Concipirung und Geſtaltung ihm die Arbeit des Tages keine Muße gegönnt hatte; hier ſchrieb er in Dankbarkeit gegen die Stille und Verſchwiegenheit der Nacht: Das Leben iſt an Möglichkeit gebunden, Und ihre Grenzen ſind oft eng gezogen; Der Freude Maaß wird ſpärlich zugewogen, Des Leidens Knäuel langſam abgewunden. Allein der Mitternacht geheime Stunden Sind günſtiger dem Sterblichen gewogen; Wer um des Tages Glück ſich fühlt betrogen, Der heilt im ſüßen Traum des Wachens Wunden; ſtille, durch poetiſche Innigkeit ausgezeichnete Bekenntniſſe, an denen ſich glücklicherweiſe die beſcheidene Hoffnung des Dichters: 13*

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg01_1862/213>, abgerufen am 27.11.2024.