während sie dem nachhing, verließ sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus.
"Ich kann es nicht los werden," sagte sie. "Und was das schlimmste ist und mich ganz irre macht an mir selbst ..."
In diesem Augenblicke setzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die Schläge.
"Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, daß unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und Freund¬ liches und vielleicht Zärtliches. Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele."
Und sie stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg.
"Und habe die Schuld auf meiner Seele," wiederholte sie. "Ja, da hab' ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes -- Angst, Todes¬ angst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schäme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab' ich auch nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich
Effi Brieſt
während ſie dem nachhing, verließ ſie das Zimmer, drin die beiden ſchliefen, und ſetzte ſich wieder an das offene Fenſter und ſah in die ſtille Nacht hinaus.
„Ich kann es nicht los werden,“ ſagte ſie. „Und was das ſchlimmſte iſt und mich ganz irre macht an mir ſelbſt …“
In dieſem Augenblicke ſetzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die Schläge.
„Zehn … Und morgen um dieſe Stunde bin ich in Berlin. Und wir ſprechen davon, daß unſer Hochzeitstag ſei, und er ſagt mir Liebes und Freund¬ liches und vielleicht Zärtliches. Und ich ſitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.“
Und ſie ſtützte den Kopf auf ihre Hand und ſtarrte vor ſich hin und ſchwieg.
„Und habe die Schuld auf meiner Seele,“ wiederholte ſie. „Ja, da hab' ich ſie. Aber laſtet ſie auch auf meiner Seele? Nein. Und das iſt es, warum ich vor mir ſelbſt erſchrecke. Was da laſtet, das iſt etwas ganz anderes — Angſt, Todes¬ angſt und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angſt … Scham. Ich ſchäme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, ſo hab' ich auch nicht die rechte Scham. Ich ſchäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0390"n="381"/><fwplace="top"type="header">Effi Brieſt<lb/></fw> während ſie dem nachhing, verließ ſie das Zimmer,<lb/>
drin die beiden ſchliefen, und ſetzte ſich wieder an<lb/>
das offene Fenſter und ſah in die ſtille Nacht hinaus.</p><lb/><p>„Ich kann es nicht los werden,“ſagte ſie. „Und<lb/>
was das ſchlimmſte iſt und mich ganz irre macht<lb/>
an mir ſelbſt …“</p><lb/><p>In dieſem Augenblicke ſetzte die Turmuhr drüben<lb/>
ein, und Effi zählte die Schläge.</p><lb/><p>„Zehn … Und morgen um dieſe Stunde bin<lb/>
ich in Berlin. Und wir ſprechen davon, daß unſer<lb/>
Hochzeitstag ſei, und er ſagt mir Liebes und Freund¬<lb/>
liches und vielleicht Zärtliches. Und ich ſitze dabei<lb/>
und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.“</p><lb/><p>Und ſie ſtützte den Kopf auf ihre Hand und<lb/>ſtarrte vor ſich hin und ſchwieg.</p><lb/><p>„Und habe die Schuld auf meiner Seele,“<lb/>
wiederholte ſie. „Ja, da <hirendition="#g">hab'</hi> ich ſie. Aber<lb/><hirendition="#g">laſtet</hi>ſie auch auf meiner Seele? Nein. Und<lb/>
das iſt es, warum ich vor mir ſelbſt erſchrecke. Was<lb/>
da laſtet, das iſt etwas ganz anderes — Angſt, Todes¬<lb/>
angſt und die ewige Furcht: es kommt doch am<lb/>
Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angſt …<lb/>
Scham. Ich ſchäme mich. Aber wie ich nicht die rechte<lb/>
Reue habe, ſo hab' ich auch nicht die rechte Scham.<lb/>
Ich ſchäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug<lb/>
und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[381/0390]
Effi Brieſt
während ſie dem nachhing, verließ ſie das Zimmer,
drin die beiden ſchliefen, und ſetzte ſich wieder an
das offene Fenſter und ſah in die ſtille Nacht hinaus.
„Ich kann es nicht los werden,“ ſagte ſie. „Und
was das ſchlimmſte iſt und mich ganz irre macht
an mir ſelbſt …“
In dieſem Augenblicke ſetzte die Turmuhr drüben
ein, und Effi zählte die Schläge.
„Zehn … Und morgen um dieſe Stunde bin
ich in Berlin. Und wir ſprechen davon, daß unſer
Hochzeitstag ſei, und er ſagt mir Liebes und Freund¬
liches und vielleicht Zärtliches. Und ich ſitze dabei
und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.“
Und ſie ſtützte den Kopf auf ihre Hand und
ſtarrte vor ſich hin und ſchwieg.
„Und habe die Schuld auf meiner Seele,“
wiederholte ſie. „Ja, da hab' ich ſie. Aber
laſtet ſie auch auf meiner Seele? Nein. Und
das iſt es, warum ich vor mir ſelbſt erſchrecke. Was
da laſtet, das iſt etwas ganz anderes — Angſt, Todes¬
angſt und die ewige Furcht: es kommt doch am
Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angſt …
Scham. Ich ſchäme mich. Aber wie ich nicht die rechte
Reue habe, ſo hab' ich auch nicht die rechte Scham.
Ich ſchäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug
und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/390>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.