Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Berlin, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen, und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben, sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. "Die Andern" sagte sie "sind Witzbolde, Dr. Kind ist aber ein feiner Mann und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer."

Hofrath Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor Kastner dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten fridericianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er "Erinnerungen" geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin,

nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen, und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben, sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. „Die Andern“ sagte sie „sind Witzbolde, Dr. Kind ist aber ein feiner Mann und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.“

Hofrath Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor Kastner dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten fridericianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er „Erinnerungen“ geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0106" n="98"/>
nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen, und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben, sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Kind. Er war unser Hausarzt und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. &#x201E;Die Andern&#x201C; sagte sie &#x201E;sind Witzbolde, <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Kind ist aber ein feiner Mann und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.&#x201C;</p>
        <p>Hofrath Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor <hi rendition="#g">Kastner</hi> dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten fridericianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er &#x201E;Erinnerungen&#x201C; geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0106] nicht herausforderte. Nie war er Gegenstand von neckischen Angriffen, und ist mir dadurch immer ein Beweis geblieben, daß man Hänseleien sehr wohl entgehen kann, auch ohne Grobheit, Unliebenswürdigkeit und Zweikämpfe. Denn es ist sehr selten, daß Spötter unter allen Umständen ihren Spott treiben, sie suchen vielmehr zunächst nach Schwächen und erst wenn sie diese gefunden haben, haken sie ein, während alle diejenigen unbehelligt bleiben, die ruhig und artig ihren Weg wandeln und keine Blöße bieten. So war es auch mit Dr. Kind. Er war unser Hausarzt und meine Mutter hielt große Stücke auf ihn. „Die Andern“ sagte sie „sind Witzbolde, Dr. Kind ist aber ein feiner Mann und wenn ich da wählen soll, wird mir die Wahl nicht schwer.“ Hofrath Kind war Hüter unseres physischen Menschen, der alte Pastor Kastner dagegen war Hüter unserer Seelen. Allerdings nicht auf lange mehr; er starb bald nach unserer Ankunft. Sein Amtieren am Ort reichte wohl bis in die letzten fridericianischen Regierungsjahre, jedenfalls bis in die Franzosenzeit zurück, und wenn er „Erinnerungen“ geschrieben hätte, so hätte das wohl das anschaulichste Bild einer kleinen pommerschen Seestadt aus dem Ende des vorigen und dem Beginne dieses Jahrhunderts gegeben. Er hatte durch all die Zeit hin,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-21T13:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Digitale Drucke der Uni Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-21T13:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-21T13:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Worttrennungen am Zeilenende werden ignoriert. Das Wort wird noch auf der gleichen Seite vervollständigt.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894/106
Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Berlin, 1894, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894/106>, abgerufen am 21.11.2024.