Erotikern eigene Zug, den von ihnen applizierten Kuß, er sei wie er sei, immer als einen "Kuß von oben", den Kuß ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuß aus der entgegengesetzten Richtung anzusehen. Sie schlagen mit ihrem "Bauer, dat's wat anners" selbst den vollwichtigsten Agrarier aus dem Felde. Zu dieser Gruppe der Weihekußmonopolisten gehörte nun Storm im höchsten Maße, trotzdem er Dinge geschrieben und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen, als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden Embonpoint-Madame, hinsichtlich deren er versicherte, "nicht nur das rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien" gesehen zu haben. Solche Verquickung von Uebermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die sauberthuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken.
Ich traf in jenen zweiundsechziger Tagen Storm meist im Zöllner'schen Hause, das, in Bezug auf Gastlichkeit, die Kugler-Merckel'sche Erbschaft angetreten hatte; noch öfter aber flanierten wir in der Stadt umher, und an einem mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Tage machten wir einen
Erotikern eigene Zug, den von ihnen applizierten Kuß, er sei wie er sei, immer als einen „Kuß von oben“, den Kuß ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuß aus der entgegengesetzten Richtung anzusehen. Sie schlagen mit ihrem „Bauer, dat’s wat anners“ selbst den vollwichtigsten Agrarier aus dem Felde. Zu dieser Gruppe der Weihekußmonopolisten gehörte nun Storm im höchsten Maße, trotzdem er Dinge geschrieben und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen, als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden Embonpoint-Madame, hinsichtlich deren er versicherte, „nicht nur das rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien“ gesehen zu haben. Solche Verquickung von Uebermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die sauberthuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken.
Ich traf in jenen zweiundsechziger Tagen Storm meist im Zöllner’schen Hause, das, in Bezug auf Gastlichkeit, die Kugler-Merckel’sche Erbschaft angetreten hatte; noch öfter aber flanierten wir in der Stadt umher, und an einem mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Tage machten wir einen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0375"n="366"/>
Erotikern eigene Zug, den von <hirendition="#g">ihnen</hi> applizierten Kuß, er sei wie er sei, immer als einen „Kuß von oben“, den Kuß ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuß aus der entgegengesetzten Richtung anzusehen. Sie schlagen mit ihrem „Bauer, dat’s wat anners“ selbst den vollwichtigsten Agrarier aus dem Felde. Zu dieser Gruppe der Weihekußmonopolisten gehörte nun Storm im höchsten Maße, trotzdem er Dinge <choice><sic>gefchrieben</sic><corr>geschrieben</corr></choice> und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen, als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden Embonpoint-Madame, hinsichtlich deren er versicherte, „nicht nur das rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien“ gesehen zu haben. Solche Verquickung von Uebermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die sauberthuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken.</p><lb/><p>Ich traf in jenen zweiundsechziger Tagen Storm meist im Zöllner’schen Hause, das, in Bezug auf Gastlichkeit, die Kugler-Merckel’sche Erbschaft angetreten hatte; noch öfter aber flanierten wir in der Stadt umher, und an einem mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Tage machten wir einen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[366/0375]
Erotikern eigene Zug, den von ihnen applizierten Kuß, er sei wie er sei, immer als einen „Kuß von oben“, den Kuß ihrer lyrischen oder novellistischen Konkurrenten aber immer als einen Kuß aus der entgegengesetzten Richtung anzusehen. Sie schlagen mit ihrem „Bauer, dat’s wat anners“ selbst den vollwichtigsten Agrarier aus dem Felde. Zu dieser Gruppe der Weihekußmonopolisten gehörte nun Storm im höchsten Maße, trotzdem er Dinge geschrieben und Situationen geschildert hat, die mir viel bedenklicher erscheinen wollen, als beispielsweise Heines berühmte Schilderung von einer dekolletiert auf einem Ball erscheinenden Embonpoint-Madame, hinsichtlich deren er versicherte, „nicht nur das rote Meer, sondern auch noch ganz Arabien, Syrien und Mesopotamien“ gesehen zu haben. Solche Verquickung von Uebermut und Komik hebt Schilderungen der Art, in meinen Augen wenigstens, auf eine künstlerische Hochstufe, neben der die sauberthuenden Wendungen der angeblichen Unschuldserotiker auch moralisch versinken.
Ich traf in jenen zweiundsechziger Tagen Storm meist im Zöllner’schen Hause, das, in Bezug auf Gastlichkeit, die Kugler-Merckel’sche Erbschaft angetreten hatte; noch öfter aber flanierten wir in der Stadt umher, und an einem mir lebhaft in Erinnerung gebliebenen Tage machten wir einen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_zwanzig_1898/375>, abgerufen am 24.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.