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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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innern. In meiner gegenwärtigen Stimmung würde
ich leicht aus dem Scherze Ernst gemacht, jedenfalls
in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz
gefunden haben. Im Hinblick auf die Mutter, die
ich in ihrer langsamen Agonie nicht verlassen konnte,
wurde die Armuth zu einer drückenden Sorge.

Die Veränderung meiner Lage war indessen zu
neu und erschütternd, als daß ich sie mit klaren Ge¬
danken hätte durchdringen mögen. Nur wühlend und
brütend schlichen die Vorstellungen an meiner Seele
vorbei. Die Lampe glimmte dunkel umschirmt; das
Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden; mich
fröstelte, wie es auch den Kräftigsten nach großen Auf¬
regungen in einem Sterbehause fröstelt. Seit zwei
Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht, und so
überfiel mich jener bleierne Druck, welcher zwischen
Schlaf und Wachen die Mitte hält, und in welchem
wir uns vergeblich zu besinnen suchen, ob die wech¬
selnden Erscheinungen wirklich vor offenen Augen,
oder ob sie im Traum an uns vorüberziehen.

In diesem Zustande war es mir plötzlich, als
spüre ich das Streifen eines lebenden Wesens; ich
sah eine verhüllte Gestalt sich über das Krankenbett

innern. In meiner gegenwärtigen Stimmung würde
ich leicht aus dem Scherze Ernſt gemacht, jedenfalls
in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz
gefunden haben. Im Hinblick auf die Mutter, die
ich in ihrer langſamen Agonie nicht verlaſſen konnte,
wurde die Armuth zu einer drückenden Sorge.

Die Veränderung meiner Lage war indeſſen zu
neu und erſchütternd, als daß ich ſie mit klaren Ge¬
danken hätte durchdringen mögen. Nur wühlend und
brütend ſchlichen die Vorſtellungen an meiner Seele
vorbei. Die Lampe glimmte dunkel umſchirmt; das
Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden; mich
fröſtelte, wie es auch den Kräftigſten nach großen Auf¬
regungen in einem Sterbehauſe fröſtelt. Seit zwei
Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht, und ſo
überfiel mich jener bleierne Druck, welcher zwiſchen
Schlaf und Wachen die Mitte hält, und in welchem
wir uns vergeblich zu beſinnen ſuchen, ob die wech¬
ſelnden Erſcheinungen wirklich vor offenen Augen,
oder ob ſie im Traum an uns vorüberziehen.

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[130/0134] innern. In meiner gegenwärtigen Stimmung würde ich leicht aus dem Scherze Ernſt gemacht, jedenfalls in einer größeren ländlichen Verwaltung meinen Platz gefunden haben. Im Hinblick auf die Mutter, die ich in ihrer langſamen Agonie nicht verlaſſen konnte, wurde die Armuth zu einer drückenden Sorge. Die Veränderung meiner Lage war indeſſen zu neu und erſchütternd, als daß ich ſie mit klaren Ge¬ danken hätte durchdringen mögen. Nur wühlend und brütend ſchlichen die Vorſtellungen an meiner Seele vorbei. Die Lampe glimmte dunkel umſchirmt; das Krankenzimmer mußte kühl erhalten werden; mich fröſtelte, wie es auch den Kräftigſten nach großen Auf¬ regungen in einem Sterbehauſe fröſtelt. Seit zwei Tagen hatte ich keinen Augenblick geruht, und ſo überfiel mich jener bleierne Druck, welcher zwiſchen Schlaf und Wachen die Mitte hält, und in welchem wir uns vergeblich zu beſinnen ſuchen, ob die wech¬ ſelnden Erſcheinungen wirklich vor offenen Augen, oder ob ſie im Traum an uns vorüberziehen. In dieſem Zuſtande war es mir plötzlich, als ſpüre ich das Streifen eines lebenden Weſens; ich ſah eine verhüllte Geſtalt ſich über das Krankenbett

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/134>, abgerufen am 24.11.2024.