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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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das ihrer Gegenwart so dringend bedurfte. Die treue
Seele drängte flehentlich zu schleunigem Aufbruch, sie
schilderte ihren kleinen Nothpfennig als eine uner¬
schöpfliche Hülfsquelle.

Und ich zögerte nicht, die dargereichte Hand zu
ergreifen. In Eile wurde der Umzug eingeleitet. Die
Uebersiedelung der Kranken sollte noch vor dem Christ¬
feste stattfinden.

Gott aber hatte es gnädiger beschlossen. Er er¬
sparte mir die Scham, meine Mutter von fremder
Hand gepflegt zu sehen und er gönnte ihr eine Ruhe¬
statt an der Seite des Mannes, den sie so lange und
so beglückend geliebt hatte. Wenige Morgen vor dem
zur Reise bestimmten fand ich sie sanft hinüberge¬
schlummert, und so schloß mein heimathliches Leben
mit einem zweiten Grabgeleit.

Aber es war nicht das letzte dieses großen Zer¬
störungsjahres. Als ich früh am Weihnachtstage, auf
Reckenburg eintraf, lag die Gräfin in hoffnungsloser
Qual. Sie zerriß sich Gewand und Haar, krallte sich
mit Todesangst an den Leib der Wärterinnen, schrie
um Hülfe, um Luft und Licht.

Ich öffnete die Fenster. Ein klares Sonnengold
strahlte von der weißen Winterdecke zurück, ein erfri¬

das ihrer Gegenwart ſo dringend bedurfte. Die treue
Seele drängte flehentlich zu ſchleunigem Aufbruch, ſie
ſchilderte ihren kleinen Nothpfennig als eine uner¬
ſchöpfliche Hülfsquelle.

Und ich zögerte nicht, die dargereichte Hand zu
ergreifen. In Eile wurde der Umzug eingeleitet. Die
Ueberſiedelung der Kranken ſollte noch vor dem Chriſt¬
feſte ſtattfinden.

Gott aber hatte es gnädiger beſchloſſen. Er er¬
ſparte mir die Scham, meine Mutter von fremder
Hand gepflegt zu ſehen und er gönnte ihr eine Ruhe¬
ſtatt an der Seite des Mannes, den ſie ſo lange und
ſo beglückend geliebt hatte. Wenige Morgen vor dem
zur Reiſe beſtimmten fand ich ſie ſanft hinüberge¬
ſchlummert, und ſo ſchloß mein heimathliches Leben
mit einem zweiten Grabgeleit.

Aber es war nicht das letzte dieſes großen Zer¬
ſtörungsjahres. Als ich früh am Weihnachtstage, auf
Reckenburg eintraf, lag die Gräfin in hoffnungsloſer
Qual. Sie zerriß ſich Gewand und Haar, krallte ſich
mit Todesangſt an den Leib der Wärterinnen, ſchrie
um Hülfe, um Luft und Licht.

Ich öffnete die Fenſter. Ein klares Sonnengold
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[151/0155] das ihrer Gegenwart ſo dringend bedurfte. Die treue Seele drängte flehentlich zu ſchleunigem Aufbruch, ſie ſchilderte ihren kleinen Nothpfennig als eine uner¬ ſchöpfliche Hülfsquelle. Und ich zögerte nicht, die dargereichte Hand zu ergreifen. In Eile wurde der Umzug eingeleitet. Die Ueberſiedelung der Kranken ſollte noch vor dem Chriſt¬ feſte ſtattfinden. Gott aber hatte es gnädiger beſchloſſen. Er er¬ ſparte mir die Scham, meine Mutter von fremder Hand gepflegt zu ſehen und er gönnte ihr eine Ruhe¬ ſtatt an der Seite des Mannes, den ſie ſo lange und ſo beglückend geliebt hatte. Wenige Morgen vor dem zur Reiſe beſtimmten fand ich ſie ſanft hinüberge¬ ſchlummert, und ſo ſchloß mein heimathliches Leben mit einem zweiten Grabgeleit. Aber es war nicht das letzte dieſes großen Zer¬ ſtörungsjahres. Als ich früh am Weihnachtstage, auf Reckenburg eintraf, lag die Gräfin in hoffnungsloſer Qual. Sie zerriß ſich Gewand und Haar, krallte ſich mit Todesangſt an den Leib der Wärterinnen, ſchrie um Hülfe, um Luft und Licht. Ich öffnete die Fenſter. Ein klares Sonnengold ſtrahlte von der weißen Winterdecke zurück, ein erfri¬

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/155>, abgerufen am 21.11.2024.