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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891.

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ihm nie so zum Bewußtsein gekommen. Aus dem
Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder,
die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch
die breite Spalte der Thür sah er im Vorübergehen
einen gesenkten dunklen Kopf und heiße Wangen.
"Der schreibt gewiß an seinen Schatz," flog es ihm
durch den Sinn.

Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬
theater. Man gab ein oberbayrisches Volksstück,
rührselig und derb komisch, aber er nahm es ohne
Kritik hin und erfreute sich an dem echten Spiel, an
Gestalten und Trachten und an der Mundart, obwohl
er sie nur halb verstand. "Da geh ich auch überall
hin," wiederholte er sich, wie am Mittag.

Er hätte auch gern geplaudert in den Zwischen¬
akten, wie die Leute rechts und links um ihn.
Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit
muntern Augen, aber sie blickte immer nach der
andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬
fred war hinterdrein, als sei es ein Kleinod, und er¬
faßte ihn im Fluge. Aber sie nahm ihn garnicht,
dankte nur obenhin: "Ich brauch' ihn nimmer," und
sprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm
bei seiner Abreise in Hamburg gesagt hätte: "Du
meinst wohl, in München stehe schon Alles auf den
Zehen und warte, bis Du kommst?" so wäre er
sicherlich beleidigt gewesen, daß man ihn für einen

ihm nie ſo zum Bewußtſein gekommen. Aus dem
Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder,
die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch
die breite Spalte der Thür ſah er im Vorübergehen
einen geſenkten dunklen Kopf und heiße Wangen.
„Der ſchreibt gewiß an ſeinen Schatz,“ flog es ihm
durch den Sinn.

Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬
theater. Man gab ein oberbayriſches Volksſtück,
rührſelig und derb komiſch, aber er nahm es ohne
Kritik hin und erfreute ſich an dem echten Spiel, an
Geſtalten und Trachten und an der Mundart, obwohl
er ſie nur halb verſtand. „Da geh ich auch überall
hin,“ wiederholte er ſich, wie am Mittag.

Er hätte auch gern geplaudert in den Zwiſchen¬
akten, wie die Leute rechts und links um ihn.
Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit
muntern Augen, aber ſie blickte immer nach der
andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬
fred war hinterdrein, als ſei es ein Kleinod, und er¬
faßte ihn im Fluge. Aber ſie nahm ihn garnicht,
dankte nur obenhin: „Ich brauch' ihn nimmer,“ und
ſprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm
bei ſeiner Abreiſe in Hamburg geſagt hätte: „Du
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[9/0025] ihm nie ſo zum Bewußtſein gekommen. Aus dem Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder, die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch die breite Spalte der Thür ſah er im Vorübergehen einen geſenkten dunklen Kopf und heiße Wangen. „Der ſchreibt gewiß an ſeinen Schatz,“ flog es ihm durch den Sinn. Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬ theater. Man gab ein oberbayriſches Volksſtück, rührſelig und derb komiſch, aber er nahm es ohne Kritik hin und erfreute ſich an dem echten Spiel, an Geſtalten und Trachten und an der Mundart, obwohl er ſie nur halb verſtand. „Da geh ich auch überall hin,“ wiederholte er ſich, wie am Mittag. Er hätte auch gern geplaudert in den Zwiſchen¬ akten, wie die Leute rechts und links um ihn. Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit muntern Augen, aber ſie blickte immer nach der andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬ fred war hinterdrein, als ſei es ein Kleinod, und er¬ faßte ihn im Fluge. Aber ſie nahm ihn garnicht, dankte nur obenhin: „Ich brauch' ihn nimmer,“ und ſprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm bei ſeiner Abreiſe in Hamburg geſagt hätte: „Du meinſt wohl, in München ſtehe ſchon Alles auf den Zehen und warte, bis Du kommſt?“ ſo wäre er ſicherlich beleidigt geweſen, daß man ihn für einen

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Zitationshilfe: Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/25>, abgerufen am 23.11.2024.