Er horchte, verstand aber nur hie und da eine Zeile von Rosenzeit und Herzeleid und dann am Schluß ein langes, sehnsüchtiges "vergessen, vergessen". Was aber kümmerten ihn die Worte. Ein bestrickender Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte seelen¬ volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengesang, aber keiner, der unselig macht, einer der fromm macht und weich, aber auch das Heimweh weckt nach einer schöneren Welt, wo die Thüren aufgethan sind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die Menschen Brüder sind und mit den Sternen und den Blumen und allen Creaturen um die Wette die Herrlichkeit des Daseins preisen. Der junge Träumer sah die Sängerin sitzen; sie trug einen Schilfkranz in den langen nassen Locken und eine Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger Kunsthalle. Der Arme hatte sonst noch keine Nixe gesehen. Aber er meinte doch, etwas runder sei sie vorzustellen, als jenes Bildwerk, und gar die "Taille" würde er nimmermehr so schmächtig formen wie bei der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders, wie voll herzlichem Weinen: "Draußen vor der Pforte steht ein Leiermann," und gar weiter das: "Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen", daß ein Schmerzensschauer den einsamen Hörer über¬ rieselte, als blicke er in alles stumme Leid und Elend der Menschheit. Nun war es keine Nixe mehr, die
Er horchte, verſtand aber nur hie und da eine Zeile von Roſenzeit und Herzeleid und dann am Schluß ein langes, ſehnſüchtiges „vergeſſen, vergeſſen“. Was aber kümmerten ihn die Worte. Ein beſtrickender Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte ſeelen¬ volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengeſang, aber keiner, der unſelig macht, einer der fromm macht und weich, aber auch das Heimweh weckt nach einer ſchöneren Welt, wo die Thüren aufgethan ſind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die Menſchen Brüder ſind und mit den Sternen und den Blumen und allen Creaturen um die Wette die Herrlichkeit des Daſeins preiſen. Der junge Träumer ſah die Sängerin ſitzen; ſie trug einen Schilfkranz in den langen naſſen Locken und eine Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger Kunſthalle. Der Arme hatte ſonſt noch keine Nixe geſehen. Aber er meinte doch, etwas runder ſei ſie vorzuſtellen, als jenes Bildwerk, und gar die „Taille“ würde er nimmermehr ſo ſchmächtig formen wie bei der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders, wie voll herzlichem Weinen: „Draußen vor der Pforte ſteht ein Leiermann,“ und gar weiter das: „Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen“, daß ein Schmerzensſchauer den einſamen Hörer über¬ rieſelte, als blicke er in alles ſtumme Leid und Elend der Menſchheit. Nun war es keine Nixe mehr, die
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0027"n="11"/>
Er horchte, verſtand aber nur hie und da eine Zeile<lb/>
von Roſenzeit und Herzeleid und dann am Schluß<lb/>
ein langes, ſehnſüchtiges „vergeſſen, vergeſſen“. Was<lb/>
aber kümmerten ihn die Worte. Ein beſtrickender<lb/>
Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte ſeelen¬<lb/>
volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengeſang,<lb/>
aber keiner, der unſelig macht, einer der fromm macht<lb/>
und weich, aber auch das Heimweh weckt nach<lb/>
einer ſchöneren Welt, wo die Thüren aufgethan<lb/>ſind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die<lb/>
Menſchen Brüder ſind und mit den Sternen und<lb/>
den Blumen und allen Creaturen um die Wette<lb/>
die Herrlichkeit des Daſeins preiſen. Der junge<lb/>
Träumer ſah die Sängerin ſitzen; ſie trug einen<lb/>
Schilfkranz in den langen naſſen Locken und eine<lb/>
Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger<lb/>
Kunſthalle. Der Arme hatte ſonſt noch keine Nixe<lb/>
geſehen. Aber er meinte doch, etwas runder ſei ſie<lb/>
vorzuſtellen, als jenes Bildwerk, und gar die „Taille“<lb/>
würde er nimmermehr ſo ſchmächtig formen wie bei<lb/>
der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders,<lb/>
wie voll herzlichem Weinen: „Draußen vor der<lb/>
Pforte ſteht ein Leiermann,“ und gar weiter das:<lb/>„Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen“, daß<lb/>
ein Schmerzensſchauer den einſamen Hörer über¬<lb/>
rieſelte, als blicke er in alles ſtumme Leid und Elend<lb/>
der Menſchheit. Nun war es keine Nixe mehr, die<lb/></p></div></body></text></TEI>
[11/0027]
Er horchte, verſtand aber nur hie und da eine Zeile
von Roſenzeit und Herzeleid und dann am Schluß
ein langes, ſehnſüchtiges „vergeſſen, vergeſſen“. Was
aber kümmerten ihn die Worte. Ein beſtrickender
Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte ſeelen¬
volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengeſang,
aber keiner, der unſelig macht, einer der fromm macht
und weich, aber auch das Heimweh weckt nach
einer ſchöneren Welt, wo die Thüren aufgethan
ſind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die
Menſchen Brüder ſind und mit den Sternen und
den Blumen und allen Creaturen um die Wette
die Herrlichkeit des Daſeins preiſen. Der junge
Träumer ſah die Sängerin ſitzen; ſie trug einen
Schilfkranz in den langen naſſen Locken und eine
Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger
Kunſthalle. Der Arme hatte ſonſt noch keine Nixe
geſehen. Aber er meinte doch, etwas runder ſei ſie
vorzuſtellen, als jenes Bildwerk, und gar die „Taille“
würde er nimmermehr ſo ſchmächtig formen wie bei
der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders,
wie voll herzlichem Weinen: „Draußen vor der
Pforte ſteht ein Leiermann,“ und gar weiter das:
„Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen“, daß
ein Schmerzensſchauer den einſamen Hörer über¬
rieſelte, als blicke er in alles ſtumme Leid und Elend
der Menſchheit. Nun war es keine Nixe mehr, die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/27>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.