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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Auf dem Lande, wo ich die Kranke nicht täglich besuchen konnte, entwickelte sich die Sache in folgender Weise. Ich kam Abends, wenn ich sie in ihrer Hypnose wusste, und nahm ihr den ganzen Vorrath von Phantasmen ab, den sie seit meinem letzten Besuch angehäuft hatte. Das musste ganz vollständig geschehen, wenn der gute Erfolg erreicht werden sollte. Dann war sie ganz beruhigt, den nächsten Tag liebenswürdig, fügsam, fleissig, selbst heiter; den zweiten immer mehr launisch, störrig, unangenehm, was am dritten noch weiter zunahm. In dieser Stimmung, auch in der Hypnose, war sie nicht immer leicht zum Aussprechen zu bewegen, für welche Procedur sie den guten, ernsthaften Namen "talking cure" (Redecur) und den humoristischen "chimney-sweeping" (Kaminfegen) erfunden hatte. Sie wusste, dass sie nach der Aussprache all ihre Störrigkeit und "Energie" verloren haben werde, und wenn sie nun schon (nach längerer Pause) in böser Laune war, so weigerte sie das Reden, das ich ihr mit Drängen und Bitten und einigen Kunstgriffen, wie dem Vorsprechen einer stereotypen Eingangsformel ihrer Geschichten, abzwingen musste. Immer aber sprach sie erst, nachdem sie sich durch sorgfältige Betastung meiner Hände von meiner Identität überzeugt hatte. In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, musste man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, musste aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Contractur). Ich hatte die Narcotica vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, dass man doch zum Chloral seine Zuflucht nehmen musste; allmählig brauchte sie auch weniger davon.

Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewusstseinszustände fort. Mitten im Gespräch hallucinirte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen und dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochen Satze wieder fort, ohne von dem dazwischen liegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Hallucinationen im Referate:

Im ganzen besserte sich der Zustand; die Ernährung war gut möglich, sie liess sich von der Wärterin das Essen in den Mund

Auf dem Lande, wo ich die Kranke nicht täglich besuchen konnte, entwickelte sich die Sache in folgender Weise. Ich kam Abends, wenn ich sie in ihrer Hypnose wusste, und nahm ihr den ganzen Vorrath von Phantasmen ab, den sie seit meinem letzten Besuch angehäuft hatte. Das musste ganz vollständig geschehen, wenn der gute Erfolg erreicht werden sollte. Dann war sie ganz beruhigt, den nächsten Tag liebenswürdig, fügsam, fleissig, selbst heiter; den zweiten immer mehr launisch, störrig, unangenehm, was am dritten noch weiter zunahm. In dieser Stimmung, auch in der Hypnose, war sie nicht immer leicht zum Aussprechen zu bewegen, für welche Procedur sie den guten, ernsthaften Namen „talking cure“ (Redecur) und den humoristischen „chimney-sweeping“ (Kaminfegen) erfunden hatte. Sie wusste, dass sie nach der Aussprache all ihre Störrigkeit und „Energie“ verloren haben werde, und wenn sie nun schon (nach längerer Pause) in böser Laune war, so weigerte sie das Reden, das ich ihr mit Drängen und Bitten und einigen Kunstgriffen, wie dem Vorsprechen einer stereotypen Eingangsformel ihrer Geschichten, abzwingen musste. Immer aber sprach sie erst, nachdem sie sich durch sorgfältige Betastung meiner Hände von meiner Identität überzeugt hatte. In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, musste man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, musste aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Contractur). Ich hatte die Narcotica vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, dass man doch zum Chloral seine Zuflucht nehmen musste; allmählig brauchte sie auch weniger davon.

Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewusstseinszustände fort. Mitten im Gespräch hallucinirte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen und dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochen Satze wieder fort, ohne von dem dazwischen liegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Hallucinationen im Referate:

Im ganzen besserte sich der Zustand; die Ernährung war gut möglich, sie liess sich von der Wärterin das Essen in den Mund

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          <p>Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewusstseinszustände fort. Mitten im Gespräch hallucinirte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen und dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochen Satze wieder fort, ohne von dem dazwischen liegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Hallucinationen im Referate:</p>
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[23/0029] Auf dem Lande, wo ich die Kranke nicht täglich besuchen konnte, entwickelte sich die Sache in folgender Weise. Ich kam Abends, wenn ich sie in ihrer Hypnose wusste, und nahm ihr den ganzen Vorrath von Phantasmen ab, den sie seit meinem letzten Besuch angehäuft hatte. Das musste ganz vollständig geschehen, wenn der gute Erfolg erreicht werden sollte. Dann war sie ganz beruhigt, den nächsten Tag liebenswürdig, fügsam, fleissig, selbst heiter; den zweiten immer mehr launisch, störrig, unangenehm, was am dritten noch weiter zunahm. In dieser Stimmung, auch in der Hypnose, war sie nicht immer leicht zum Aussprechen zu bewegen, für welche Procedur sie den guten, ernsthaften Namen „talking cure“ (Redecur) und den humoristischen „chimney-sweeping“ (Kaminfegen) erfunden hatte. Sie wusste, dass sie nach der Aussprache all ihre Störrigkeit und „Energie“ verloren haben werde, und wenn sie nun schon (nach längerer Pause) in böser Laune war, so weigerte sie das Reden, das ich ihr mit Drängen und Bitten und einigen Kunstgriffen, wie dem Vorsprechen einer stereotypen Eingangsformel ihrer Geschichten, abzwingen musste. Immer aber sprach sie erst, nachdem sie sich durch sorgfältige Betastung meiner Hände von meiner Identität überzeugt hatte. In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, musste man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, musste aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Contractur). Ich hatte die Narcotica vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, dass man doch zum Chloral seine Zuflucht nehmen musste; allmählig brauchte sie auch weniger davon. Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewusstseinszustände fort. Mitten im Gespräch hallucinirte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen und dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochen Satze wieder fort, ohne von dem dazwischen liegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Hallucinationen im Referate: Im ganzen besserte sich der Zustand; die Ernährung war gut möglich, sie liess sich von der Wärterin das Essen in den Mund

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/29>, abgerufen am 21.11.2024.