Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.führen, nur Brod verlangte sie, refusirte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Contractur-Parese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurtheilung und grosse Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Grosse Hilfe gewährte ein Neufoundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Thier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war. Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absencen, ihrer "condition seconde" producirten Vorstellungscomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwochentlichen Ferialreise. Während dieser war keine "talking cure" vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderem als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugethan worden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustand, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, dass ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Hallucinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen liess und ihr nun Abend für Abend 3-5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, dass sie am Tag nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht "zuwider" war. Ihr moralischer Zustand war eine Function der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Product ihrer Phantasie und jede von dem kranken Theil ihrer Psyche aufgefasste Begebenheit, als psychischer Reiz solange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiemit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war. Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich, führen, nur Brod verlangte sie, refusirte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Contractur-Parese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurtheilung und grosse Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Grosse Hilfe gewährte ein Neufoundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Thier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war. Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absencen, ihrer „condition seconde“ producirten Vorstellungscomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwochentlichen Ferialreise. Während dieser war keine „talking cure“ vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderem als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugethan worden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustand, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, dass ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Hallucinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen liess und ihr nun Abend für Abend 3–5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, dass sie am Tag nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht „zuwider“ war. Ihr moralischer Zustand war eine Function der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Product ihrer Phantasie und jede von dem kranken Theil ihrer Psyche aufgefasste Begebenheit, als psychischer Reiz solange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiemit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war. Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="24"/> führen, nur Brod verlangte sie, refusirte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Contractur-Parese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurtheilung und grosse Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Grosse Hilfe gewährte ein Neufoundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Thier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war.</p> <p>Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absencen, ihrer „condition seconde“ producirten Vorstellungscomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwochentlichen Ferialreise. Während dieser war keine „talking cure“ vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderem als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugethan worden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustand, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, dass ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Hallucinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen liess und ihr nun Abend für Abend 3–5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, dass sie am Tag nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht „zuwider“ war. Ihr moralischer Zustand war eine Function der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Product ihrer Phantasie und jede von dem kranken Theil ihrer Psyche aufgefasste Begebenheit, als psychischer Reiz solange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiemit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war.</p> <p>Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0030]
führen, nur Brod verlangte sie, refusirte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Contractur-Parese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurtheilung und grosse Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Grosse Hilfe gewährte ein Neufoundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Thier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war.
Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absencen, ihrer „condition seconde“ producirten Vorstellungscomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwochentlichen Ferialreise. Während dieser war keine „talking cure“ vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderem als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugethan worden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustand, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, dass ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Hallucinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen liess und ihr nun Abend für Abend 3–5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, dass sie am Tag nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht „zuwider“ war. Ihr moralischer Zustand war eine Function der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Product ihrer Phantasie und jede von dem kranken Theil ihrer Psyche aufgefasste Begebenheit, als psychischer Reiz solange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiemit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war.
Als Patientin im Herbst wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich,
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