Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.ist nicht so absichtslos, als es den Anschein hat; es enthält vielmehr die ziemlich vollständige Reproduction der Erinnerungen und neuen Eindrücke, die sie seit unserem letzten Gespräch beeinflusst haben, und läuft oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiscenzen aus, die sie sich unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene und vom Zufall geleitete Conversation zur Ergänzung der Hypnose. So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt auf allerlei Umwegen zur Geschichte eines Cousins, der ein beschränkter Sonderling war und dem seine Eltern sämmtliche Zähne auf einem Sitze ziehen liessen. Diese Erzählung begleitet sie mit den Geberden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung ihrer Schutzformel (Seien sie still! - Reden Sie nichts! - Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt, und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulismus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen glaubt. In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt hat, und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihenfolge: 1. ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2. die Schmerzen vom unbequemen Sitzen im Bade. - Ich frage heute, was die Redensart: Seien Sie still etc. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwirre und noch ärger sei. Das "Seien Sie still" beziehe sich darauf, dass die Thiergestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Bewegung gerathen und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine Bewegung mache; endlich die Mahnung; "Rühren Sie mich nicht an" komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so grässliche Anfälle hatte (mit 19 Jahren) habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefasst; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit 28 Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, dass sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie - trotz der grossen Zeitdifferenzen - in einem Satz und so rasch hinter einander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereigniss in 4 Acten bilden würden. Alle ihre Mittheilungen solcher gruppirter Traumen beginnen übrigens mit "Wie" und die einzelnen Partialtraumen sind durch "und" an einander gereiht. ist nicht so absichtslos, als es den Anschein hat; es enthält vielmehr die ziemlich vollständige Reproduction der Erinnerungen und neuen Eindrücke, die sie seit unserem letzten Gespräch beeinflusst haben, und läuft oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiscenzen aus, die sie sich unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene und vom Zufall geleitete Conversation zur Ergänzung der Hypnose. So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt auf allerlei Umwegen zur Geschichte eines Cousins, der ein beschränkter Sonderling war und dem seine Eltern sämmtliche Zähne auf einem Sitze ziehen liessen. Diese Erzählung begleitet sie mit den Geberden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung ihrer Schutzformel (Seien sie still! – Reden Sie nichts! – Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt, und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulismus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen glaubt. In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt hat, und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihenfolge: 1. ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2. die Schmerzen vom unbequemen Sitzen im Bade. – Ich frage heute, was die Redensart: Seien Sie still etc. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwirre und noch ärger sei. Das „Seien Sie still“ beziehe sich darauf, dass die Thiergestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Bewegung gerathen und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine Bewegung mache; endlich die Mahnung; „Rühren Sie mich nicht an“ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so grässliche Anfälle hatte (mit 19 Jahren) habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefasst; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit 28 Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, dass sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie – trotz der grossen Zeitdifferenzen – in einem Satz und so rasch hinter einander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereigniss in 4 Acten bilden würden. Alle ihre Mittheilungen solcher gruppirter Traumen beginnen übrigens mit „Wie“ und die einzelnen Partialtraumen sind durch „und“ an einander gereiht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0051" n="45"/> ist nicht so absichtslos, als es den Anschein hat; es enthält vielmehr die ziemlich vollständige Reproduction der Erinnerungen und neuen Eindrücke, die sie seit unserem letzten Gespräch beeinflusst haben, und läuft oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiscenzen aus, die sie sich unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene und vom Zufall geleitete Conversation zur Ergänzung der Hypnose. So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt auf allerlei Umwegen zur Geschichte eines Cousins, der ein beschränkter Sonderling war und dem seine Eltern sämmtliche Zähne auf einem Sitze ziehen liessen. Diese Erzählung begleitet sie mit den Geberden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung ihrer Schutzformel (Seien sie still! – Reden Sie nichts! – Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt, und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulismus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen glaubt.</p> <p>In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt hat, und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihenfolge: 1. ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2. die Schmerzen vom unbequemen Sitzen im Bade. – Ich frage heute, was die Redensart: Seien Sie still etc. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwirre und noch ärger sei. Das „Seien Sie still“ beziehe sich darauf, dass die Thiergestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Bewegung gerathen und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine Bewegung mache; endlich die Mahnung; „Rühren Sie mich nicht an“ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so grässliche Anfälle hatte (mit 19 Jahren) habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefasst; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit 28 Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, dass sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie – trotz der grossen Zeitdifferenzen – in einem Satz und so rasch hinter einander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereigniss in 4 Acten bilden würden. Alle ihre Mittheilungen solcher gruppirter Traumen beginnen übrigens mit „Wie“ und die einzelnen Partialtraumen sind durch „und“ an einander gereiht. </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0051]
ist nicht so absichtslos, als es den Anschein hat; es enthält vielmehr die ziemlich vollständige Reproduction der Erinnerungen und neuen Eindrücke, die sie seit unserem letzten Gespräch beeinflusst haben, und läuft oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiscenzen aus, die sie sich unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene und vom Zufall geleitete Conversation zur Ergänzung der Hypnose. So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt auf allerlei Umwegen zur Geschichte eines Cousins, der ein beschränkter Sonderling war und dem seine Eltern sämmtliche Zähne auf einem Sitze ziehen liessen. Diese Erzählung begleitet sie mit den Geberden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung ihrer Schutzformel (Seien sie still! – Reden Sie nichts! – Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt, und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulismus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen glaubt.
In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt hat, und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihenfolge: 1. ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2. die Schmerzen vom unbequemen Sitzen im Bade. – Ich frage heute, was die Redensart: Seien Sie still etc. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwirre und noch ärger sei. Das „Seien Sie still“ beziehe sich darauf, dass die Thiergestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Bewegung gerathen und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine Bewegung mache; endlich die Mahnung; „Rühren Sie mich nicht an“ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom vielen Morphin so krank war und so grässliche Anfälle hatte (mit 19 Jahren) habe er sie oft plötzlich angepackt; dann sei einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig geworden und habe sie am Arme gefasst; (ein dritter ähnlicher Fall, an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre Kleine so krank gewesen (mit 28 Jahren), habe sie sie im Delirium so heftig gepackt, dass sie fast erstickt wäre. Diese 4 Fälle hat sie – trotz der grossen Zeitdifferenzen – in einem Satz und so rasch hinter einander erzählt, als ob sie ein einzelnes Ereigniss in 4 Acten bilden würden. Alle ihre Mittheilungen solcher gruppirter Traumen beginnen übrigens mit „Wie“ und die einzelnen Partialtraumen sind durch „und“ an einander gereiht.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |