Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.Zustände, von denen ich sie befreit hatte. Ein hervorragender Arzt in ihrer Nähe, an den sie sich wandte, und Dr. Breuer, der brieflich mit ihr verkehrte, vermochten es zwar, sie zur Einsicht von der Unschuld der beiden Angeklagten zu bringen, allein die zu dieser Zeit gefasste Abneigung gegen mich blieb ihr als hysterischer Rest auch nach dieser Aufklärung übrig, und sie erklärte, es sei ihr unmöglich, sich wieder in meine Behandlung zu begeben. Nach dem Rath jener ärztlichen Autorität suchte sie Hilfe in einem Sanatorium Norddeutschlands, und ich theilte auf Breuer's Wunsch dem leitenden Arzte der Anstalt mit, welche Modification der hypnotischen Therapie sich bei ihr wirksam erwiesen hatte. Dieser Versuch einer Uebertragung misslang ganz gründlich. Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzt nicht verstanden zu haben, erschöpfte sich im Widerstand gegen alles, was man mit ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Esslust und erholte sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte, sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt hatte. Kurze Zeit darauf, genau 1 Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich wieder in meine Hände. Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei; es hatte doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, "Sturm im Kopf", wie sie es nannte; ausserdem war sie schlaflos, musste oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte. Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wüthend die Hände an einander, und als ich sie fragte, ob sie viel Thiere sehe, antwortete sie nur: "O, seien Sie still." Beim ersten Versuch, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie die Fäuste, schrie: "Ich will keine Antipyrininjection, ich will lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R... nicht, er ist mir antipathisch." Ich erkannte, dass sie in der Reminiscenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation zurückbrachte. Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wiedergekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geantwortet: seit dem Schreck, Zustände, von denen ich sie befreit hatte. Ein hervorragender Arzt in ihrer Nähe, an den sie sich wandte, und Dr. Breuer, der brieflich mit ihr verkehrte, vermochten es zwar, sie zur Einsicht von der Unschuld der beiden Angeklagten zu bringen, allein die zu dieser Zeit gefasste Abneigung gegen mich blieb ihr als hysterischer Rest auch nach dieser Aufklärung übrig, und sie erklärte, es sei ihr unmöglich, sich wieder in meine Behandlung zu begeben. Nach dem Rath jener ärztlichen Autorität suchte sie Hilfe in einem Sanatorium Norddeutschlands, und ich theilte auf Breuer’s Wunsch dem leitenden Arzte der Anstalt mit, welche Modification der hypnotischen Therapie sich bei ihr wirksam erwiesen hatte. Dieser Versuch einer Uebertragung misslang ganz gründlich. Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzt nicht verstanden zu haben, erschöpfte sich im Widerstand gegen alles, was man mit ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Esslust und erholte sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte, sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt hatte. Kurze Zeit darauf, genau 1 Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich wieder in meine Hände. Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei; es hatte doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, „Sturm im Kopf“, wie sie es nannte; ausserdem war sie schlaflos, musste oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte. Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wüthend die Hände an einander, und als ich sie fragte, ob sie viel Thiere sehe, antwortete sie nur: „O, seien Sie still.“ Beim ersten Versuch, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie die Fäuste, schrie: „Ich will keine Antipyrininjection, ich will lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R... nicht, er ist mir antipathisch.“ Ich erkannte, dass sie in der Reminiscenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation zurückbrachte. Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wiedergekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geantwortet: seit dem Schreck, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0071" n="65"/> Zustände, von denen ich sie befreit hatte. 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Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzt nicht verstanden zu haben, erschöpfte sich im Widerstand gegen alles, was man mit ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Esslust und erholte sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte, sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt hatte. Kurze Zeit darauf, genau 1 Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich wieder in meine Hände.</p> <p>Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei; es hatte doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, „Sturm im Kopf“, wie sie es nannte; ausserdem war sie schlaflos, musste oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte. Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wüthend die Hände an einander, und als ich sie fragte, ob sie viel Thiere sehe, antwortete sie nur: „O, seien Sie still.“</p> <p>Beim ersten Versuch, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie die Fäuste, schrie: „Ich will keine Antipyrininjection, ich will lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R... nicht, er ist mir antipathisch.“ Ich erkannte, dass sie in der Reminiscenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation zurückbrachte.</p> <p>Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wiedergekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geantwortet: seit dem Schreck, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0071]
Zustände, von denen ich sie befreit hatte. Ein hervorragender Arzt in ihrer Nähe, an den sie sich wandte, und Dr. Breuer, der brieflich mit ihr verkehrte, vermochten es zwar, sie zur Einsicht von der Unschuld der beiden Angeklagten zu bringen, allein die zu dieser Zeit gefasste Abneigung gegen mich blieb ihr als hysterischer Rest auch nach dieser Aufklärung übrig, und sie erklärte, es sei ihr unmöglich, sich wieder in meine Behandlung zu begeben. Nach dem Rath jener ärztlichen Autorität suchte sie Hilfe in einem Sanatorium Norddeutschlands, und ich theilte auf Breuer’s Wunsch dem leitenden Arzte der Anstalt mit, welche Modification der hypnotischen Therapie sich bei ihr wirksam erwiesen hatte.
Dieser Versuch einer Uebertragung misslang ganz gründlich. Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzt nicht verstanden zu haben, erschöpfte sich im Widerstand gegen alles, was man mit ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Esslust und erholte sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte, sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt hatte. Kurze Zeit darauf, genau 1 Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich wieder in meine Hände.
Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei; es hatte doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, „Sturm im Kopf“, wie sie es nannte; ausserdem war sie schlaflos, musste oft durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte. Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wüthend die Hände an einander, und als ich sie fragte, ob sie viel Thiere sehe, antwortete sie nur: „O, seien Sie still.“
Beim ersten Versuch, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie die Fäuste, schrie: „Ich will keine Antipyrininjection, ich will lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R... nicht, er ist mir antipathisch.“ Ich erkannte, dass sie in der Reminiscenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation zurückbrachte.
Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wiedergekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geantwortet: seit dem Schreck,
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