Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

kathartischen Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu verwerten, allein ich muss doch sagen, dass nur jene Krankheitssymptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen ich die psychische Analyse durchgeführt hatte.

Der therapeutische Erfolg war im Ganzen ein recht beträchtlicher, aber kein dauernder; die Eignung der Kranken, unter neuerlichen Traumen, die sie trafen, in änlicher Weise zu erkranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgiltige Heilung einer solchen Hysterie unternehmen wollte, müsste sich eingehendere Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben, als ich damals versuchte. Frau v. N. war sicherlich eine neuropathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zu Stande. Aber die Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören Gründe dazu und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine Aetiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, dass bei Frau v. N. die Affecte so vieler traumatischer Erlebnisse erhalten schienen, und dass eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit bald dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der Affecte bei Frau v. N. anzugeben. Er hängt allerdings mit ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der grössten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig; andererseits lebte sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Vereinsamung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde misstrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, dass Niemand zuviel Einfluss auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten war ein grosser, und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufgenöthigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast isolirt von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbsquälerei, oft auch ihre natürliche Rathlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mechanismus der Retention grosser Erregungssummen an und für sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich theils auf die Umstände ihres Lebens, theils auf ihre natürliche Anlage; ihre Scheu z. B., etwas über sich mitzutheilen, war so gross, dass keiner von den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte.

Ob ich damit die Aetiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft habe? Ich glaube es nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der beiden

kathartischen Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu verwerten, allein ich muss doch sagen, dass nur jene Krankheitssymptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen ich die psychische Analyse durchgeführt hatte.

Der therapeutische Erfolg war im Ganzen ein recht beträchtlicher, aber kein dauernder; die Eignung der Kranken, unter neuerlichen Traumen, die sie trafen, in änlicher Weise zu erkranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgiltige Heilung einer solchen Hysterie unternehmen wollte, müsste sich eingehendere Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben, als ich damals versuchte. Frau v. N. war sicherlich eine neuropathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zu Stande. Aber die Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören Gründe dazu und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine Aetiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, dass bei Frau v. N. die Affecte so vieler traumatischer Erlebnisse erhalten schienen, und dass eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit bald dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der Affecte bei Frau v. N. anzugeben. Er hängt allerdings mit ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der grössten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig; andererseits lebte sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Vereinsamung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde misstrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, dass Niemand zuviel Einfluss auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten war ein grosser, und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufgenöthigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast isolirt von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbsquälerei, oft auch ihre natürliche Rathlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mechanismus der Retention grosser Erregungssummen an und für sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich theils auf die Umstände ihres Lebens, theils auf ihre natürliche Anlage; ihre Scheu z. B., etwas über sich mitzutheilen, war so gross, dass keiner von den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte.

Ob ich damit die Aetiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft habe? Ich glaube es nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der beiden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div>
            <p><pb facs="#f0093" n="87"/>
kathartischen Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu verwerten, allein ich muss doch sagen, dass nur jene Krankheitssymptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen ich die psychische Analyse durchgeführt hatte.</p>
            <p>Der therapeutische Erfolg war im Ganzen ein recht beträchtlicher, aber kein dauernder; die Eignung der Kranken, unter neuerlichen Traumen, die sie trafen, in änlicher Weise zu erkranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgiltige Heilung einer solchen Hysterie unternehmen wollte, müsste sich eingehendere Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben, als ich damals versuchte. Frau v. N. war sicherlich eine neuropathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zu Stande. Aber die Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören Gründe dazu und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine Aetiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, dass bei Frau v. N. die Affecte so vieler traumatischer Erlebnisse erhalten schienen, und dass eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit bald dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der Affecte bei Frau v. N. anzugeben. Er hängt allerdings mit ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der grössten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig; andererseits lebte sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Vereinsamung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde misstrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, dass Niemand zuviel Einfluss auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten war ein grosser, und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufgenöthigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast isolirt von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbsquälerei, oft auch ihre natürliche Rathlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mechanismus der <hi rendition="#g">Retention grosser Erregungssummen</hi> an und für sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich theils auf die Umstände ihres Lebens, theils auf ihre natürliche Anlage; ihre Scheu z. B., etwas über sich mitzutheilen, war so gross, dass keiner von den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte.</p>
            <p>Ob ich damit die Aetiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft habe? Ich glaube es nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der beiden
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0093] kathartischen Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu verwerten, allein ich muss doch sagen, dass nur jene Krankheitssymptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen ich die psychische Analyse durchgeführt hatte. Der therapeutische Erfolg war im Ganzen ein recht beträchtlicher, aber kein dauernder; die Eignung der Kranken, unter neuerlichen Traumen, die sie trafen, in änlicher Weise zu erkranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgiltige Heilung einer solchen Hysterie unternehmen wollte, müsste sich eingehendere Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben, als ich damals versuchte. Frau v. N. war sicherlich eine neuropathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zu Stande. Aber die Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören Gründe dazu und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine Aetiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, dass bei Frau v. N. die Affecte so vieler traumatischer Erlebnisse erhalten schienen, und dass eine lebhafte Erinnerungsthätigkeit bald dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der Affecte bei Frau v. N. anzugeben. Er hängt allerdings mit ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der grössten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig; andererseits lebte sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Vereinsamung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde misstrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, dass Niemand zuviel Einfluss auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten war ein grosser, und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufgenöthigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast isolirt von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbsquälerei, oft auch ihre natürliche Rathlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mechanismus der Retention grosser Erregungssummen an und für sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich theils auf die Umstände ihres Lebens, theils auf ihre natürliche Anlage; ihre Scheu z. B., etwas über sich mitzutheilen, war so gross, dass keiner von den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte. Ob ich damit die Aetiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft habe? Ich glaube es nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der beiden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/93
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/93>, abgerufen am 24.11.2024.