Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es muss noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provociren. Es ist mir auch aufgefallen, dass in all den intimen Mittheilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlass zu Traumen gibt, völlig fehlte. So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam. Die Patientin war in ihrem Benehmen von der grössten, ungekünstelt erscheinenden Decenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hotel erzählte, komme ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen, und sich zu Zeiten bei dem Versuch einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, dass sie nicht wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem grossen Vermögen der Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte, und weil sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden. Noch eine Bemerkung muss ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. beschliesse. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Aerzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M. ... ersehen hatten, dass Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist - eine Thatsache, die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, - so hatten wir an Frau Emmy v. N. ein Beispiel dafür, dass die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewusste Lebensführung nicht ausschliesst. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponirte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen, Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es muss noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provociren. Es ist mir auch aufgefallen, dass in all den intimen Mittheilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlass zu Traumen gibt, völlig fehlte. So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam. Die Patientin war in ihrem Benehmen von der grössten, ungekünstelt erscheinenden Decenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hôtel erzählte, komme ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen, und sich zu Zeiten bei dem Versuch einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, dass sie nicht wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem grossen Vermögen der Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte, und weil sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden. Noch eine Bemerkung muss ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. beschliesse. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Aerzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M. ... ersehen hatten, dass Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist – eine Thatsache, die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, – so hatten wir an Frau Emmy v. N. ein Beispiel dafür, dass die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewusste Lebensführung nicht ausschliesst. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponirte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div> <p><pb facs="#f0094" n="88"/> Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es muss noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provociren. Es ist mir auch aufgefallen, dass in all den intimen Mittheilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlass zu Traumen gibt, völlig fehlte. So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam. Die Patientin war in ihrem Benehmen von der grössten, ungekünstelt erscheinenden Decenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hôtel erzählte, komme ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen, und sich zu Zeiten bei dem Versuch einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, dass sie nicht wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem grossen Vermögen der Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte, und weil sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden.</p> <p>Noch eine Bemerkung muss ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. beschliesse. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. <hi rendition="#g">Breuer</hi> und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Aerzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M. ... ersehen hatten, dass Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist – eine Thatsache, die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, – so hatten wir an Frau Emmy v. N. ein Beispiel dafür, dass die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewusste Lebensführung nicht ausschliesst. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponirte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0094]
Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es muss noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provociren. Es ist mir auch aufgefallen, dass in all den intimen Mittheilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element, das doch wie kein anderes Anlass zu Traumen gibt, völlig fehlte. So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam. Die Patientin war in ihrem Benehmen von der grössten, ungekünstelt erscheinenden Decenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hôtel erzählte, komme ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne schwere Kämpfe gewonnen, und sich zu Zeiten bei dem Versuch einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, dass sie nicht wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem grossen Vermögen der Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte, und weil sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden.
Noch eine Bemerkung muss ich anfügen, ehe ich die Krankengeschichte der Frau v. N. beschliesse. Wir kannten sie beide ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Aerzte zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M. ... ersehen hatten, dass Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist – eine Thatsache, die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, – so hatten wir an Frau Emmy v. N. ein Beispiel dafür, dass die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewusste Lebensführung nicht ausschliesst. Es war eine ausgezeichnete Frau, die wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auffassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden imponirte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden Personen,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |