Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Indem ich aber auf den Somnambulismus verzichtete, beraubte ich mich vielleicht einer Vorbedingung, ohne welche die kathartische Methode unanwendbar schien. Sie beruhte ja darauf, dass die Kranken in dem veränderten Bewusstseinzustand solche Erinnerungen zur Verfügung hatten und solche Zusammenhänge erkannten, die in ihrem normalen Bewustseinzustand angeblich nicht vorhanden waren. Wo die somnambule Erweiterung des Gedächtnisses wegfiel, musste auch die Möglichkeit ausbleiben, eine Causalbeziehung herzustellen, die der Kranke dem Arzt nicht als eine ihm bekannte entgegenbrachte, und gerade die pathogenen Erinnerungen sind es ja, "die dem Gedächtniss der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande fehlen oder nur höchst summarisch darin vorhanden sind." (Vorl. Mittheilung.)

Aus dieser neuen Verlegenheit half mir die Erinnerung, dass ich Bernheim selbst den Beweis hatte erbringen sehen, die Erinnerungen des Somnambulismus seien im Wachzustand nur scheinbar vergessen und Hessen sich durch leichtes Mahnen, verknüpft mit einem Handgriff, der einen ändern Bewusstseinszustand markiren sollte, wieder hervorrufen. Er hatte z. B. einer Somnambulen die negative Hallucination ertheilt, er sei nicht mehr anwesend, hatte sich dann auf die mannigfaltigsten Weisen und durch schonungslose Angriffe ihr bemerkbar zu machen versucht. Es war nicht gelungen. Nachdem die Kranke erweckt war, verlangte er zu wissen, was er mit ihr vorgenommen, während sie geglaubt habe, er sei nicht da. Sie gab erstaunt zur Antwort, sie wisse von nichts, aber er gab nicht nach, behauptete, sie würde sich an alles erinnern, legte ihr die Hand auf die Stirne, damit sie sich besänne, und siehe da, sie erzählte endlich alles, was sie im somnambulen Zustand angeblich nicht wahrgenommen und wovon sie im Wachzustand angeblich nichts gewusst hatte.

Dieser erstaunliche und lehrreiche Versuch war mein Vorbild. Ich beschloss von der Voraussetzung auszugehen, dass meine Patienten alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch wussten, und dass es sich nur darum handle, sie zum Mittheilen zu nöthigen. Wenn ich also zu einem Punkt gekommen war, wo ich auf die Frage: "Seit wann haben Sie dies Symptom? Oder, woher rührt es?" die Antwort bekam: "Das weiss ich wirklich nicht", so verfuhr ich folgendermaassen. Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine beiden Hände und sagte: "Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Druck meiner Hand. Im Augenblick, da ich mit dem Druck aufhöre,

Indem ich aber auf den Somnambulismus verzichtete, beraubte ich mich vielleicht einer Vorbedingung, ohne welche die kathartische Methode unanwendbar schien. Sie beruhte ja darauf, dass die Kranken in dem veränderten Bewusstseinzustand solche Erinnerungen zur Verfügung hatten und solche Zusammenhänge erkannten, die in ihrem normalen Bewustseinzustand angeblich nicht vorhanden waren. Wo die somnambule Erweiterung des Gedächtnisses wegfiel, musste auch die Möglichkeit ausbleiben, eine Causalbeziehung herzustellen, die der Kranke dem Arzt nicht als eine ihm bekannte entgegenbrachte, und gerade die pathogenen Erinnerungen sind es ja, „die dem Gedächtniss der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande fehlen oder nur höchst summarisch darin vorhanden sind.“ (Vorl. Mittheilung.)

Aus dieser neuen Verlegenheit half mir die Erinnerung, dass ich Bernheim selbst den Beweis hatte erbringen sehen, die Erinnerungen des Somnambulismus seien im Wachzustand nur scheinbar vergessen und Hessen sich durch leichtes Mahnen, verknüpft mit einem Handgriff, der einen ändern Bewusstseinszustand markiren sollte, wieder hervorrufen. Er hatte z. B. einer Somnambulen die negative Hallucination ertheilt, er sei nicht mehr anwesend, hatte sich dann auf die mannigfaltigsten Weisen und durch schonungslose Angriffe ihr bemerkbar zu machen versucht. Es war nicht gelungen. Nachdem die Kranke erweckt war, verlangte er zu wissen, was er mit ihr vorgenommen, während sie geglaubt habe, er sei nicht da. Sie gab erstaunt zur Antwort, sie wisse von nichts, aber er gab nicht nach, behauptete, sie würde sich an alles erinnern, legte ihr die Hand auf die Stirne, damit sie sich besänne, und siehe da, sie erzählte endlich alles, was sie im somnambulen Zustand angeblich nicht wahrgenommen und wovon sie im Wachzustand angeblich nichts gewusst hatte.

Dieser erstaunliche und lehrreiche Versuch war mein Vorbild. Ich beschloss von der Voraussetzung auszugehen, dass meine Patienten alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch wussten, und dass es sich nur darum handle, sie zum Mittheilen zu nöthigen. Wenn ich also zu einem Punkt gekommen war, wo ich auf die Frage: „Seit wann haben Sie dies Symptom? Oder, woher rührt es?“ die Antwort bekam: „Das weiss ich wirklich nicht“, so verfuhr ich folgendermaassen. Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine beiden Hände und sagte: „Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Druck meiner Hand. Im Augenblick, da ich mit dem Druck aufhöre,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0099" n="93"/>
          <p>Indem ich aber auf den Somnambulismus verzichtete, beraubte ich mich vielleicht einer Vorbedingung, ohne welche die kathartische Methode unanwendbar schien. Sie beruhte ja darauf, dass die Kranken in dem veränderten Bewusstseinzustand solche Erinnerungen zur Verfügung hatten und solche Zusammenhänge erkannten, die in ihrem normalen Bewustseinzustand angeblich nicht vorhanden waren. Wo die somnambule Erweiterung des Gedächtnisses wegfiel, musste auch die Möglichkeit ausbleiben, eine Causalbeziehung herzustellen, die der Kranke dem Arzt nicht als eine ihm bekannte entgegenbrachte, und gerade die pathogenen Erinnerungen sind es ja, &#x201E;die dem Gedächtniss der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande fehlen oder nur höchst summarisch darin vorhanden sind.&#x201C; (Vorl. Mittheilung.)</p>
          <p>Aus dieser neuen Verlegenheit half mir die Erinnerung, dass ich <hi rendition="#g">Bernheim</hi> selbst den Beweis hatte erbringen sehen, die Erinnerungen des Somnambulismus seien im Wachzustand nur scheinbar vergessen und Hessen sich durch leichtes Mahnen, verknüpft mit einem Handgriff, der einen ändern Bewusstseinszustand markiren sollte, wieder hervorrufen. Er hatte z. B. einer Somnambulen die negative Hallucination ertheilt, er sei nicht mehr anwesend, hatte sich dann auf die mannigfaltigsten Weisen und durch schonungslose Angriffe ihr bemerkbar zu machen versucht. Es war nicht gelungen. Nachdem die Kranke erweckt war, verlangte er zu wissen, was er mit ihr vorgenommen, während sie geglaubt habe, er sei nicht da. Sie gab erstaunt zur Antwort, sie wisse von nichts, aber er gab nicht nach, behauptete, sie würde sich an alles erinnern, legte ihr die Hand auf die Stirne, damit sie sich besänne, und siehe da, sie erzählte endlich alles, was sie im somnambulen Zustand angeblich nicht wahrgenommen und wovon sie im Wachzustand angeblich nichts gewusst hatte.</p>
          <p>Dieser erstaunliche und lehrreiche Versuch war mein Vorbild. Ich beschloss von der Voraussetzung auszugehen, dass meine Patienten alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch wussten, und dass es sich nur darum handle, sie zum Mittheilen zu nöthigen. Wenn ich also zu einem Punkt gekommen war, wo ich auf die Frage: &#x201E;Seit wann haben Sie dies Symptom? Oder, woher rührt es?&#x201C; die Antwort bekam: &#x201E;Das weiss ich wirklich nicht&#x201C;, so verfuhr ich folgendermaassen. Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine beiden Hände und sagte: &#x201E;Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Druck meiner Hand. Im Augenblick, da ich mit dem Druck aufhöre,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0099] Indem ich aber auf den Somnambulismus verzichtete, beraubte ich mich vielleicht einer Vorbedingung, ohne welche die kathartische Methode unanwendbar schien. Sie beruhte ja darauf, dass die Kranken in dem veränderten Bewusstseinzustand solche Erinnerungen zur Verfügung hatten und solche Zusammenhänge erkannten, die in ihrem normalen Bewustseinzustand angeblich nicht vorhanden waren. Wo die somnambule Erweiterung des Gedächtnisses wegfiel, musste auch die Möglichkeit ausbleiben, eine Causalbeziehung herzustellen, die der Kranke dem Arzt nicht als eine ihm bekannte entgegenbrachte, und gerade die pathogenen Erinnerungen sind es ja, „die dem Gedächtniss der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande fehlen oder nur höchst summarisch darin vorhanden sind.“ (Vorl. Mittheilung.) Aus dieser neuen Verlegenheit half mir die Erinnerung, dass ich Bernheim selbst den Beweis hatte erbringen sehen, die Erinnerungen des Somnambulismus seien im Wachzustand nur scheinbar vergessen und Hessen sich durch leichtes Mahnen, verknüpft mit einem Handgriff, der einen ändern Bewusstseinszustand markiren sollte, wieder hervorrufen. Er hatte z. B. einer Somnambulen die negative Hallucination ertheilt, er sei nicht mehr anwesend, hatte sich dann auf die mannigfaltigsten Weisen und durch schonungslose Angriffe ihr bemerkbar zu machen versucht. Es war nicht gelungen. Nachdem die Kranke erweckt war, verlangte er zu wissen, was er mit ihr vorgenommen, während sie geglaubt habe, er sei nicht da. Sie gab erstaunt zur Antwort, sie wisse von nichts, aber er gab nicht nach, behauptete, sie würde sich an alles erinnern, legte ihr die Hand auf die Stirne, damit sie sich besänne, und siehe da, sie erzählte endlich alles, was sie im somnambulen Zustand angeblich nicht wahrgenommen und wovon sie im Wachzustand angeblich nichts gewusst hatte. Dieser erstaunliche und lehrreiche Versuch war mein Vorbild. Ich beschloss von der Voraussetzung auszugehen, dass meine Patienten alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch wussten, und dass es sich nur darum handle, sie zum Mittheilen zu nöthigen. Wenn ich also zu einem Punkt gekommen war, wo ich auf die Frage: „Seit wann haben Sie dies Symptom? Oder, woher rührt es?“ die Antwort bekam: „Das weiss ich wirklich nicht“, so verfuhr ich folgendermaassen. Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine beiden Hände und sagte: „Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Druck meiner Hand. Im Augenblick, da ich mit dem Druck aufhöre,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/99
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/99>, abgerufen am 23.11.2024.