Er legte lächeld die Hand auf meinen Scheitel. "Kleine Schwärmerin" sagte er, "vielleicht dach- test du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu Bogensehnen hergaben, als Opfer für das Va- terland!" Erglühend küßte ich seine Hand. "Be- ruhige dich," fuhr er fort, "die Gelübde der Un- schuld sind gewiß der Gottheit angenehm."
Um gleich in der Reihefolge dieser Neigung zu bleiben, will ich hier erzählen, was sich erst zwei Jahre später begab. Jch hatte mein zwölftes Jahr angetreten, unser Emil war seit einigen Wochen von uns geschieden, um, wie ich schon früher gesagt, in Aix erzogen zu wer- den. Vuonaparte war aus Aegypten zurückge- kehrt, er hatte das von Factionen zerrissene Vaterland gerettet, die Flamme des gräulichen Bürgerkrieges gelöscht, und mit kräftiger Hand das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn gründeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die Gemäßigten hofften feste Ordnung und Gesetz- lichkeit, und täuschten sich nicht; die Republi- kaner Freiheit -- man ließ ihnen so viel davon in Form und Wesen, als sich nur mit der Größe des Reichs, und dem Grade seiner mo-
Er legte laͤcheld die Hand auf meinen Scheitel. „Kleine Schwaͤrmerin‟ ſagte er, „vielleicht dach- teſt du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu Bogenſehnen hergaben, als Opfer fuͤr das Va- terland!‟ Ergluͤhend kuͤßte ich ſeine Hand. „Be- ruhige dich,‟ fuhr er fort, „die Geluͤbde der Un- ſchuld ſind gewiß der Gottheit angenehm.‟
Um gleich in der Reihefolge dieſer Neigung zu bleiben, will ich hier erzaͤhlen, was ſich erſt zwei Jahre ſpaͤter begab. Jch hatte mein zwoͤlftes Jahr angetreten, unſer Emil war ſeit einigen Wochen von uns geſchieden, um, wie ich ſchon fruͤher geſagt, in Aix erzogen zu wer- den. Vuonaparte war aus Aegypten zuruͤckge- kehrt, er hatte das von Factionen zerriſſene Vaterland gerettet, die Flamme des graͤulichen Buͤrgerkrieges geloͤſcht, und mit kraͤftiger Hand das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn gruͤndeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die Gemaͤßigten hofften feſte Ordnung und Geſetz- lichkeit, und taͤuſchten ſich nicht; die Republi- kaner Freiheit — man ließ ihnen ſo viel davon in Form und Weſen, als ſich nur mit der Groͤße des Reichs, und dem Grade ſeiner mo-
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Er legte laͤcheld die Hand auf meinen Scheitel.
„Kleine Schwaͤrmerin‟ ſagte er, „vielleicht dach-
teſt du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu
Bogenſehnen hergaben, als Opfer fuͤr das Va-
terland!‟ Ergluͤhend kuͤßte ich ſeine Hand. „Be-
ruhige dich,‟ fuhr er fort, „die Geluͤbde der Un-
ſchuld ſind gewiß der Gottheit angenehm.‟
Um gleich in der Reihefolge dieſer Neigung
zu bleiben, will ich hier erzaͤhlen, was ſich
erſt zwei Jahre ſpaͤter begab. Jch hatte mein
zwoͤlftes Jahr angetreten, unſer Emil war ſeit
einigen Wochen von uns geſchieden, um, wie
ich ſchon fruͤher geſagt, in Aix erzogen zu wer-
den. Vuonaparte war aus Aegypten zuruͤckge-
kehrt, er hatte das von Factionen zerriſſene
Vaterland gerettet, die Flamme des graͤulichen
Buͤrgerkrieges geloͤſcht, und mit kraͤftiger Hand
das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn
gruͤndeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die
Gemaͤßigten hofften feſte Ordnung und Geſetz-
lichkeit, und taͤuſchten ſich nicht; die Republi-
kaner Freiheit — man ließ ihnen ſo viel davon
in Form und Weſen, als ſich nur mit der
Groͤße des Reichs, und dem Grade ſeiner mo-
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/86>, abgerufen am 16.02.2025.
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