der heiligen Jungfrau nieder. Es dämmerte schaurig um mich her, die epheuumrankten, bunt- gemahlten Fensterscheiben, ließen nur spärlich, das Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten im Gebet schnitt ich meine langen, schönen Lok- ken ab, legte sie auf den Altar, und sprach laut das Gelübde aus, mein Haar nicht eher wieder wachsen zu lassen, es nicht eher wieder mit Blumen zu schmücken, bis er zurückgekehrt sey, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und allen Heiligen empfahl. Jndem ich mich auf- richtete, brach ein Strahl der scheidenden Sonne durch ein Fenster hinter mir, und röthete das Angesicht der Jungfrau, welche mir zu lächeln schien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach Hause, wo mich Alle mit Erstaunen empfingen. Hocherröthend gestand ich, mein Haar auf dem Al- tar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab stok- kend als Grund an, ein Mahl gelesen zu haben, daß die griechischen Mädchen, beim Austritt aus der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg- ten. Meine Mutter schalt sehr heftig und konnte sich gar nicht zufrieden geben. Mein Vater schien den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden.
der heiligen Jungfrau nieder. Es daͤmmerte ſchaurig um mich her, die epheuumrankten, bunt- gemahlten Fenſterſcheiben, ließen nur ſpaͤrlich, das Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten im Gebet ſchnitt ich meine langen, ſchoͤnen Lok- ken ab, legte ſie auf den Altar, und ſprach laut das Geluͤbde aus, mein Haar nicht eher wieder wachſen zu laſſen, es nicht eher wieder mit Blumen zu ſchmuͤcken, bis er zuruͤckgekehrt ſey, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und allen Heiligen empfahl. Jndem ich mich auf- richtete, brach ein Strahl der ſcheidenden Sonne durch ein Fenſter hinter mir, und roͤthete das Angeſicht der Jungfrau, welche mir zu laͤcheln ſchien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach Hauſe, wo mich Alle mit Erſtaunen empfingen. Hocherroͤthend geſtand ich, mein Haar auf dem Al- tar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab ſtok- kend als Grund an, ein Mahl geleſen zu haben, daß die griechiſchen Maͤdchen, beim Austritt aus der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg- ten. Meine Mutter ſchalt ſehr heftig und konnte ſich gar nicht zufrieden geben. Mein Vater ſchien den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden.
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der heiligen Jungfrau nieder. Es daͤmmerte
ſchaurig um mich her, die epheuumrankten, bunt-
gemahlten Fenſterſcheiben, ließen nur ſpaͤrlich, das
Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten
im Gebet ſchnitt ich meine langen, ſchoͤnen Lok-
ken ab, legte ſie auf den Altar, und ſprach
laut das Geluͤbde aus, mein Haar nicht eher
wieder wachſen zu laſſen, es nicht eher wieder
mit Blumen zu ſchmuͤcken, bis er zuruͤckgekehrt
ſey, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und
allen Heiligen empfahl. Jndem ich mich auf-
richtete, brach ein Strahl der ſcheidenden Sonne
durch ein Fenſter hinter mir, und roͤthete das
Angeſicht der Jungfrau, welche mir zu laͤcheln
ſchien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach
Hauſe, wo mich Alle mit Erſtaunen empfingen.
Hocherroͤthend geſtand ich, mein Haar auf dem Al-
tar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab ſtok-
kend als Grund an, ein Mahl geleſen zu haben,
daß die griechiſchen Maͤdchen, beim Austritt aus
der Kindheit eine Locke den Grazien zu opfern pfleg-
ten. Meine Mutter ſchalt ſehr heftig und konnte
ſich gar nicht zufrieden geben. Mein Vater ſchien
den Sinn meines Opfers zum Theil zu ahnden.
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/85>, abgerufen am 16.02.2025.
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