Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

betrifft, die Löwin des Dorfes, welcher am Sonntage alle Bauermädchen den Schnitt ihres nächsten neuen Kleides absehen.

Bernhard und Therese Artmann, so heißt das junge Ehepaar, haben auch noch vor wenig Jahren wahrhaftig nicht daran gedacht, daß ihr Schicksal sie einst für immer in diese ländliche Einsamkeit verschlagen werde. Denn Bernhard, obgleich der Sohn des vorigen Pachters, war als Zweitgeborener nicht zu seinem jetzigen Berufe bestimmt; sein älterer Bruder, der dazu erzogen worden, hatte nach des Vaters Tode die einträgliche Pachtung antreten sollen, Bernhard hingegen in Münster und später in Berlin Medicin studirt. Da starben kurz nacheinander Bruder und Vater, und der Graf ließ Bernhard in Berlin fragen, ob er Lust zur Pachtung habe. Bis zu seinem achtzehnten Jahre war er freilich auf dem Pachthofe gewesen und hatte nur von seinem zehnten Jahre an täglich im nächsten Städtchen, das nur eine kleine Stunde entfernt lag, das Gymnasium besucht. Der Graf meinte aber, er werde die Kenntniß der Landwirthschaft doch von der Geburt her erblich in sich tragen; dann schrieb auch seine einzige Schwester, er möge doch kommen und nicht Ursache sein, daß sie unter fremden Leuten sein müsse. Eine alte Tante, eine Art ökonomischen Wunders, seit ihrer Geburt auf dem Hofe ansässig, versprach überdies, ihn mit allen ihren Kenntnissen zu unterstützen, und seine Geliebte -- denn er hatte in

betrifft, die Löwin des Dorfes, welcher am Sonntage alle Bauermädchen den Schnitt ihres nächsten neuen Kleides absehen.

Bernhard und Therese Artmann, so heißt das junge Ehepaar, haben auch noch vor wenig Jahren wahrhaftig nicht daran gedacht, daß ihr Schicksal sie einst für immer in diese ländliche Einsamkeit verschlagen werde. Denn Bernhard, obgleich der Sohn des vorigen Pachters, war als Zweitgeborener nicht zu seinem jetzigen Berufe bestimmt; sein älterer Bruder, der dazu erzogen worden, hatte nach des Vaters Tode die einträgliche Pachtung antreten sollen, Bernhard hingegen in Münster und später in Berlin Medicin studirt. Da starben kurz nacheinander Bruder und Vater, und der Graf ließ Bernhard in Berlin fragen, ob er Lust zur Pachtung habe. Bis zu seinem achtzehnten Jahre war er freilich auf dem Pachthofe gewesen und hatte nur von seinem zehnten Jahre an täglich im nächsten Städtchen, das nur eine kleine Stunde entfernt lag, das Gymnasium besucht. Der Graf meinte aber, er werde die Kenntniß der Landwirthschaft doch von der Geburt her erblich in sich tragen; dann schrieb auch seine einzige Schwester, er möge doch kommen und nicht Ursache sein, daß sie unter fremden Leuten sein müsse. Eine alte Tante, eine Art ökonomischen Wunders, seit ihrer Geburt auf dem Hofe ansässig, versprach überdies, ihn mit allen ihren Kenntnissen zu unterstützen, und seine Geliebte — denn er hatte in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0010"/>
betrifft, die Löwin      des Dorfes, welcher am Sonntage alle Bauermädchen den Schnitt ihres nächsten neuen Kleides      absehen.</p><lb/>
        <p>Bernhard und Therese Artmann, so heißt das junge Ehepaar, haben auch noch vor wenig Jahren      wahrhaftig nicht daran gedacht, daß ihr Schicksal sie einst für immer in diese ländliche      Einsamkeit verschlagen werde. Denn Bernhard, obgleich der Sohn des vorigen Pachters, war als      Zweitgeborener nicht zu seinem jetzigen Berufe bestimmt; sein älterer Bruder, der dazu erzogen      worden, hatte nach des Vaters Tode die einträgliche Pachtung antreten sollen, Bernhard hingegen      in Münster und später in Berlin Medicin studirt. Da starben kurz nacheinander Bruder und Vater,      und der Graf ließ Bernhard in Berlin fragen, ob er Lust zur Pachtung habe. Bis zu seinem      achtzehnten Jahre war er freilich auf dem Pachthofe gewesen und hatte nur von seinem zehnten      Jahre an täglich im nächsten Städtchen, das nur eine kleine Stunde entfernt lag, das Gymnasium      besucht. Der Graf meinte aber, er werde die Kenntniß der Landwirthschaft doch von der Geburt      her erblich in sich tragen; dann schrieb auch seine einzige Schwester, er möge doch kommen und      nicht Ursache sein, daß sie unter fremden Leuten sein müsse. Eine alte Tante, eine Art      ökonomischen Wunders, seit ihrer Geburt auf dem Hofe ansässig, versprach überdies, ihn mit      allen ihren Kenntnissen zu unterstützen, und seine Geliebte &#x2014; denn er hatte in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0010] betrifft, die Löwin des Dorfes, welcher am Sonntage alle Bauermädchen den Schnitt ihres nächsten neuen Kleides absehen. Bernhard und Therese Artmann, so heißt das junge Ehepaar, haben auch noch vor wenig Jahren wahrhaftig nicht daran gedacht, daß ihr Schicksal sie einst für immer in diese ländliche Einsamkeit verschlagen werde. Denn Bernhard, obgleich der Sohn des vorigen Pachters, war als Zweitgeborener nicht zu seinem jetzigen Berufe bestimmt; sein älterer Bruder, der dazu erzogen worden, hatte nach des Vaters Tode die einträgliche Pachtung antreten sollen, Bernhard hingegen in Münster und später in Berlin Medicin studirt. Da starben kurz nacheinander Bruder und Vater, und der Graf ließ Bernhard in Berlin fragen, ob er Lust zur Pachtung habe. Bis zu seinem achtzehnten Jahre war er freilich auf dem Pachthofe gewesen und hatte nur von seinem zehnten Jahre an täglich im nächsten Städtchen, das nur eine kleine Stunde entfernt lag, das Gymnasium besucht. Der Graf meinte aber, er werde die Kenntniß der Landwirthschaft doch von der Geburt her erblich in sich tragen; dann schrieb auch seine einzige Schwester, er möge doch kommen und nicht Ursache sein, daß sie unter fremden Leuten sein müsse. Eine alte Tante, eine Art ökonomischen Wunders, seit ihrer Geburt auf dem Hofe ansässig, versprach überdies, ihn mit allen ihren Kenntnissen zu unterstützen, und seine Geliebte — denn er hatte in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/10
Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/10>, abgerufen am 03.12.2024.